Essen. Die Ruhrbesetzung 1923 wurde lange mit spitzen Fingern angefasst, aus gutem Grund. Aber sie war, international, die Geburtsstunde des Ruhrgebiets
Eigentlich, bekannte Ruhrmuseums-Chef Theodor Grütter bei der Vorstellung der Sonderschau über die Ruhrbesetzung von 1923 bis 1925, habe man zunächst gar nicht vorgehabt, dem Ereignis eine eigene Ausstellung zu widmen. Die enorme publizistische und geschichtswissenschaftliche Jubiläumsjahr-Bugwelle, die das für die Deutschen so einschneidende Jahr 1923 schon im Vorfeld entwickelt hat, scheint für ein Umdenken gesorgt zu haben. Die Sonderschau läuft jetzt (bis zum 27. August) in einer Art Zwischendeck des Ruhrmuseums auf der 21-Meter-Ebene. Sie eröffnet bei aller Übersichtlichkeit doch überraschend viele Perspektiven. Unter anderem auch die, dass 1923 die eigentliche Geburtsstunde des Ruhrgebiets war.
Lange Zeit haben Historiker, linke und liberal zumal, das Thema Ruhrbesetzung nur mit spitzen Fingen angefasst. Klar: Der Einmarsch der Franzosen und Belgier ins Ruhrgebiet hatte dort (und in ganz Deutschland) eine gewaltige Aufwallung von teils exzessivem Nationalismus und Rassismus zur Folge.
Trunkenbold Albert Leo Schlageter und der rechte Mythos „Ruhrkampf“
Zur Symbolfigur wurde der Weltkriegs- und Freikorps-Soldat Albert Leo Schlageter, der schon 1920 geholfen hatte, die rote Märzrevolution brutal niederzuschlagen; drei Jahre später versuchte sich der Nationalsozialist als freischaffender Saboteur im Revier, der aber auch von Staat und Wirtschaft unterstützt wurde. Eisenbahnsprengungen sollten Kohlelieferungen nach Frankreich blockieren und einen neuen Krieg provozieren. Nachdem ihn eine „Frauensperson“ wegen der offen herumliegenden Sprengladungen in seinem Zimmer bei den Franzosen angezeigt hatte und der betrunkene Schlageter sich bei denen gleich mit diversen Pässen auszuweisen versuchte, wurde er festgenommen, zum Tode verurteilt und auf der Golzheimer Heide in Düsseldorf hingerichtet. Die Nazis stilisierten Schlageter zum Märtyrer, so wie sich der „Ruhrkampf“ zum rechten Mythos auswuchs.
Die Realität der Ruhrbesetzung aber war vielschichtiger. Der Bottroper Verleger Werner Boschmann berichtet, dass sich sein Großvater an die Jahre 1923ff. als „die aufregendste Zeit meines Lebens“ erinnert hatte. Der von Berlin ausgerufene „passive Widerstand“ gegen die Besetzung war ja auch eine Mischung aus Ausnahmezustand und Karneval: Dass plötzlich Beamte mit Segen von „oben“ in den sonst streng verbotenen Streik traten, dass Eisenbahner versuchten, Zugverkehr zu verhindern, dass Recht und Gesetz plötzlich nicht mehr in Stein gemeißelt waren, sondern je nach dem – ob sie den Besatzern nutzten oder dem Widerstand. Wahrscheinlich wird sich auch ein ungeahntes, klassenübergreifendes Gefühl der Solidarität eingestellt haben, wo die Gesellschaft nach dem Krieg, nach der Märzrevolution, tief gespalten war. Gemeinsame Feinde schweißen ja zusammen, so mancher Krieg ist auch innenpolitisch motiviert.
Ernest Hemingway und „ein großer Stab erster Journalisten aus allen Kulturstaaten“
Das Ruhrgebiet wurde 1923 aber unversehens zum Mittelpunkt der Weimarer Republik. Entscheidungen fielen in Berlin, das eigentliche Drama aber spielte sich zwischen Düsseldorf und Dortmund ab. Der verrußte Hinterhof des Landes, für den sich bis dahin kaum jemand interessiert hatte, stand plötzlich im grellen Scheinwerferlicht. Noch vor den französischen und belgischen Soldaten war „ein großer Stab erster Journalisten aus allen Kulturstaaten eingetroffen,“ so Hannes Pyszkas Buch „Der Ruhrkrieg“.
So kam auch Ernest Hemingway sofort aus Paris herangerast und beobachtete „die rivalisierenden französischen und deutschen Pressebüros im Hotel Kaiserhof“ in Essen: „Beide Seiten verzerrten großzügig die Tatsachen und verbreiteten falsche Nachrichten“, wie es in seiner sanft spottenden Reportage „Franzosen tüchtig, wenn die Kamera zusieht“ für den „Toronto Daily Star“ heißt. Kamerateams der Franzosen stellten Szenen, die zeigen sollten, wie gut die Besetzung funktioniert. „Alternative Fakten“ 1923. Hemingway beschrieb aber tatsächlich auch amerikanische Touristen, „die sich die Ruhrbesetzung ansehen wollten“. Und mit Süffisanz, dass die Franzosen ihre „natürliche Gabe für Liebe, Krieg, Weinherstellung, Landwirtschaft, Malerei, Schreiben und Kochen“ im Ruhrgebiet kaum anwenden konnten, von der Kriegskunst einmal abgesehen.
Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Heinrich Hauser, Jura Soyfer und Urs Jaeggi
Nachzulesen ist all das nun wieder in einem Sammelband mit Revier-Reportagen aus den fünf Jahrzehnten nach 1923 (siehe unten). Dessen Herausgeber Dirk Hallenberger erinnert im Vorwort an Erik Reger, der just in dieser Zeit feststellte, der „Kohlenpott“ sei „neuerdings ein beliebtes Ausflugsziel der Reporter geworden.“ In der Folge kamen tatsächlich zeitgenössische Edelfedern wie Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Heinrich Hauser, Jura Soyfer und viele mehr, angezogen von der so ganz anderen, fremden, dreckigen, durchtechnisierten und oft zugleich barbarischen Welt, in der alles, Mensch, Landschaft, Luft und Architektur, sich der hochprofitablen Produktion von Kohle und Stahl zu beugen hatten.
Rheinisch-westfälisch statt Ruhr
Das Ruhrgebiet wurde von außen wahrgenommen – und nahm sich selbst mehr denn je als Einheit wahr. Dass es Franzosen und Belgier waren, die dafür sorgten, gehört zu den Ironien der Geschichte. Selbst der Name Ruhrgebiet kam nun immer mehr in Gebrauch. Zuvor war meist vom „rheinisch-westfälischen Kohlenbezirk“ oder „Industriebezirk“ die Rede; die Zechen waren seit 1893 im „Rheinisch-Westfälischen Kohlesyndikat“ vereint, um Preise und Löhne zu kontrollieren. Noch 1920 wurde der Vorläufer des heutigen Regionalverbands Ruhr als „Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk“ gegründet. Der „Ruhrkampf“ aber, der „Ruhrkrieg“ oder neutraler: die Ruhrbesetzung fand im Ruhrgebiet statt.
Der Band „In Sachen Stadtschaft Ruhr“ (hg. von Dirk Hallenberger, Verlag Henselowsky Boschmann, geb. 168 S., 14,90 €) umfasst ein halbes Jahrhundert Ruhrgebiets-Reportagen, von 1923 bis 1973. Die Reihe der 23 Autorinnen und Autoren reicht von der kaum bekannten Lisa Tetzner über Hemingway und Joseph Roth bis zu Urs Jaeggi und Hannsferdinand Döbler („Unterwegs mit dem Klüngelskerl“). Herausgeber Hallenberger sieht in der Reportage „das leistungsfähigere Verfahren, um die Welt der Technik und der Industrie zu vermitteln“. Zugleich warnt er schelmisch im Vorwort: „Die folgenden Berichte können nicht alle Fragen zum Ruhrgebiet beantworten.“
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Der Band „In Sachen Stadtschaft Ruhr“ (hg. von Dirk Hallenberger, Verlag Henselowsky Boschmann, geb. 168 S., 14,90 €) umfasst ein halbes Jahrhundert Ruhrgebiets-Reportagen, von 1923 bis 1973. Die Reihe der 23 Autorinnen und Autoren reicht von der kaum bekannten Lisa Tetzner über Hemingway und Joseph Roth bis zu Urs Jaeggi und Hannsferdinand Döbler („Unterwegs mit dem Klüngelskerl“). Herausgeber Hallenberger sieht in der Reportage „das leistungsfähigere Verfahren, um die Welt der Technik und der Industrie zu vermitteln“. Zugleich warnt er schelmisch im Vorwort: „Die folgenden Berichte können nicht alle Fragen zum Ruhrgebiet beantworten.“