Oberhausen. Zuwandererkinder werden nach Auffassung einer früheren Oberhausener Gymnasiallehrerin in den Schulen falsch behandelt. Sie fordert Reformen.
Gastarbeiter, Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge – seit Jahrzehnten schon kommen Kinder ausländischer Familien an deutsche Schulen, die eindeutig besondere Bedürfnisse haben. Doch ebenso lang bescheinigen unzählige Studien dem deutschen Bildungssystem, dass es diese Kinder nicht nur zu wenig fördert, sondern sogar daran hindert, erfolgreich zu sein. Obwohl inzwischen jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund hat, schaffen es erschreckend wenige bis zum Abitur oder an eine Universität.
Daran sind auch die Lehrer schuld, meint Herta Fidelak-Beilke, die am Gymnasium unterrichtet hat und Ausbilderin am Oberhausener Lehrerseminar war. Erst als Pensionärin habe sie erkannt, welche Fehler auch sie damals im Unterricht gemacht hat. Ihre ehrenamtliche Arbeit mit Schülerinnen und Schülern aus Einwandererfamilien habe ihr die Augen geöffnet. Was sie ihrem Berufsstand vorwirft – und welche Verbesserungsvorschläge sie hat.
„Was ist eine Eis-Revue? Wissen Sie das?“ Herta Fidelak-Beilke schaut herausfordernd. Sie ist eine zierliche Person, aber von starker Präsenz. Wenn sie spricht, bewegt sich ihr üppiges, blondes Haar. Ihre Hände wirbeln umher. Die Frage war eine rhetorische, die Antwort kommt gleich hinterher: Nicht jedes Kind, das in einer Oberhausener Schule im Klassenraum sitzt, kenne ein solches Show-Format. Doch es gebe Aufgabenstellungen, die dies voraussetzten. Und das, findet die pensionierte Lehrerin, ist nicht nur unfair, sondern auch unsensibel.
Kinder, die aus anderen Kulturen stammen, womöglich nicht hier geboren und aufgewachsen sind, hätten bei bestimmten Unterrichtsinhalten keine Chance, mitzukommen. Oder, schlimmer noch, würden retraumatisiert, weil sie sich, wie der Junge aus Syrien, völlig unvorbereitet mit Picassos Kriegsdarstellung „Guernica“ konfrontiert sehen.
Schüler mit Zuwanderungsgeschichte: Dieselben Fehler seit den 80ern
Ob damals mit den türkischen Arbeiterkindern, Anfang der 1980-Jahre, als Herta Fidelak-Beilke am Bertha-von-Suttner-Gymnasium anfing, oder heute mit den ukrainischen Kriegsflüchtlingen: Wenn es um die Integration geht, würden an den Schulen immer noch dieselben Fehler gemacht. „Welche Verben man trennen kann und wo Präpositionen in einem Satz stehen müssen, kann man schnell lernen“, sagt Fidelak-Beilke. Viel wichtiger sei es, den Heranwachsenden die Zusammenhänge zu erklären: „Hinter den Worten stehen Lebenskonzepte.“
Sie gibt Beispiele: Nicht in jedem Land spielt der Nationalsozialismus eine so große Rolle wie in Deutschland, das müsse eingeordnet und erklärt werden. Und nicht überall auf der Welt leben die Menschen im Wohlstand, wovon zahlreiche Beispiele in Lehrbüchern jedoch ausgingen. Der eingeschränkte europäische Blick müsse erweitert werden, meint die 68-Jährige, und das nicht nur im Unterricht, sondern auch bei der Zusammenarbeit mit den Eltern.
Was erwartet Schule vom Kind, was von den Erziehungsberechtigten? Dies sei den meisten Eltern, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind, völlig unklar, sagt die pensionierte Lehrerin. Olga Olenberg, deren Sohn sie Nachhilfe gibt, bestätigt dies. Die Russlanddeutsche stammt aus Kasachstan und ist mit 16 Jahren eingewandert. „Ich dachte, meine Kinder sind hier geboren, sie sind Deutsche.“ Vorlesen, Sport, Musik, sie hätten alles gemacht, um ihre Jungs zu fördern. Erst in der Oberstufe sei ihr jedoch aufgegangen, dass das nicht genug war.
In manchen Dingen konnten die Eltern einfach nicht helfen. Und auch die Zwischentöne in der Kommunikation seien schwer zu entschlüsseln gewesen. „Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht. Bis heute“, sagt die zweifache Mutter. Fidelak-Beilke, inzwischen eine Freundin der Familie, ärgert das immens. Die Schuld liege nicht bei den Eltern. Einfach nur eine Integration nach dem Motto „Werdet wie wir“ zu fordern, sei unzureichend. „Es braucht multinationale Teams, schon in der Grundschule“, fordert sie. Man müsse schauen, welche Informationen die Eltern brauchen. Das Wichtigste jedoch: „Jeder Lehrer muss sich fragen: Wer ist da vor mir, was braucht die Person?“
Diskriminierende Lehrbücher in der Schule
Auf die Schülerinnen und Schüler einzugehen, ihre Biografien und Erfahrungen wahrzunehmen, vielleicht sogar in die Gestaltung des Unterrichts einfließen zu lassen, erfordere reflektiert zu sein. Dies sei aber keine zusätzliche Arbeit, nimmt Fidelak-Beilke ihren Kritikern gleich den Wind aus den Segeln. Und niemand sei verpflichtet, mit eindimensionalen oder gar diskriminierenden Lehrbüchern zu arbeiten: „Jeder kann seine Arbeitsblätter selbst entwickeln.“
Vor allem brauche es die richtige Haltung, sagt sie. Welche das ist? „Neugierig sein, fragen.“ Das habe sie auch nicht immer getan, musste sie feststellen. Obwohl sie aus einer sozialdemokratischen Familie stammt, obwohl sie sich seit ihrer Jugend für Toleranz und Vielfalt eingesetzt hat. Wenn ein Referat über die Türkei gehalten werden sollte, habe sie ganz selbstverständlich angenommen, dass die Kinder, deren Eltern aus diesem Land stammen, das übernehmen. Und sich dann gewundert, dass die überhaupt keine Lust darauf hatten. „Ich hätte sie fragen müssen“, sagt sie heute.
Herta Fidelak-Beilke ist nicht mehr in der Schule unterwegs, doch sie ist immer noch leidenschaftliche Lehrerin. Ihre Nachhilfestunden für inzwischen über hundert Kinder und Jugendliche nennt sie „Lebens-Coaching“. Sie ist immer noch ganz nah dran an dem, was in den Klassenräumen passiert. Sie will nicht, dass es an Zufällen liegt, ob ein junger Mensch erfolgreich in der Schule ist, weil jemand sich seiner annimmt, so wie sie es bei so vielen tut. Sie will, dass das System sich ändert. Und so, wie sie heute über ihre einstige Rolle nachdenkt, fordert sie es auch von den aktuellen Kollegien ein: „Wir machen alle Fehler. Aber daraus zu lernen, das erwarte ich.“
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