Oberhausen. „Man kann Japan verstehen“, betont Wolfgang Schwentker, der selbst 17 Jahre als Professor in der Millionen-Metropole Osaka lebte und lehrte.
Kimono und Kirschblütenkult kennt wohl jeder, in Kyotos Mangamuseum pilgern eher die Jüngeren, und die Feinheiten der Teezeremonie dürften nach Kennern verlangen. Doch Wolfgang Schwentker sagt durchaus bestimmt: „Japan ist nicht rätselhaft. Man kann Japan verstehen.“ Eine eminente Grundlage dafür hat der 69-jährige, gebürtige Oberhausener nun selbst vorgelegt: Zehn Jahre arbeitete der Historiker an seiner tausendseitigen „Geschichte Japans“, die vor wenigen Wochen beim angesehenen Verlag C. H. Beck erschienen ist.
Längst nennt der Autor Japan seine „zweite Heimat“ und plant eine baldige Rückkehr nach Osaka. Vor 20 Jahren war der Wissenschaftler – als einer der ersten ausländischen Akademiker – an die ehemals Kaiserliche Universität der Acht-Millionen-Metropole berufen worden: „Eine große Herausforderung“, sagt Professor Schwentker. Schließlich war ihm ein weltumspannender Berufsweg über mehr als 9000 Kilometer Distanz nicht vorgezeichnet worden.
In der heute von manchen Feuilletons nur noch als überaltert und kränkelnd gezeichneten Wirtschaftsweltmacht Japan hatte jahrzehntelang der „Vater der Soziologie“ einen ganz besonderen Ruf – und dem Werk und Wirken von Max Weber (1864 bis 1920) hatte sich früh auch der bei Wolfgang J. Mommsen studierende Absolvent des Heinrich-Heine-Gymnasiums verschrieben. Als der junge Mitarbeiter am großen Editionsprojekt der Max-Weber-Gesamtausgabe erfuhr, dass zwei Drittel der bereits erschienenen Bände nach Japan verkauft wurden, machte er aus dem Erstaunen ein Forschungsprojekt.
Bürokratie „steht dem alten Preußen in nichts nach“
Daraus wurden für Wolfgang Schwentker die ersten beiden Jahre in Japan, finanziert von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, zu deren engmaschig geknüpften Netz weltweit 30.000 Forschende zählen. Für den Stipendiaten aus Oberhausen war’s erst einmal an der Zeit, intensiv Japanisch zu lernen, um überhaupt zu den hunderten Forschungsarbeiten über Max Weber und seine „Protestantische Ethik“ vorzudringen. Daraus wurde „Max Weber in Japan“, die Habilitationsschrift des Historikers.
Das Weber-Buch war im Inselreich zwischen Fukuoka und Sapporo ein Erfolg mit mehreren Auflagen – „und mit der japanischen Lebensart komme ich gut zurecht“, sagt der Professor mit Sinn für Understatement. Die Hochschulbürokratie in einem Kaiserreich, das im Akten(un)wesen „dem alten Preußen in nichts nachsteht“, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Dennoch kann der Professor über seine 17 Jahre an der vormals „kaiserlichen“ Universität von Osaka fast schwärmerisch von „optimalen Bedingungen“ erzählen.
Den höheren Semestern verheißt das 1:10-Verhältnis von Lehrenden zu Lernenden ideale Forschungsbedingungen am Lehrstuhl für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte: „Die Studierenden haben eigene Arbeitsplätze am Institut“ – und ihre Professoren eine so gute Grundausstattung, dass sie das Anträge-Schreiben um Drittmittel auch mal hintan stellen können. Noch als seit 2019 emeritierter Professor verfügt Wolfgang Schwentker in Osaka über ein eigenes Büro.
Schon im ersten Jahr seiner Professur hatte Schwentker für den angesehenen C. H. Beck-Verlag ein kleines Buch über „Die Samurai“ geschrieben – „keine Militärgeschichte“, wie er betont, sondern eine kurze Kulturgeschichte der Krieger-Kaste, deren Ethos bis zu den uniformierten Anzugträgern in Japans Hochhausschluchten weiterwirken soll. Doch wie wird daraus ein gewichtiges Tausend-Seiten-Werk, das Japan von den ältesten archäologischen Funden bis zur trendigen Popkultur erzählt?
Üblicherweise teilt sich sonst ein ganzer Stab spezialisierter Historiker eine derart umfassende Aufgabe nach Epochen oder Themen auf. Wolfgang Schwentker aber geht es um „die große Linie“ – um das Bestimmende über Jahrhunderte hinweg. Niemand könne ein „Spezialist für alles sein – das macht mich angreifbar: Ich musste mich aus meiner Komfortzone heraus begeben.“
„Historikerstreit“ war lange überfällig
Als Leitmotiv seiner „Geschichte Japans“ erkannte er „die Spannung von innen und außen“: Jahrhunderte der Abschottung des Inselreiches wechselten mit einer ebenso radikalen Öffnung bis hin zur imperialistischen Expansion. Die Ausprägungen von Nationalismus und Militarismus, sagt Professor Schwentker, faszinierten ihn schon „seit der Schulzeit am Heine-Gymnasium“.
In Japan allerdings war ein „Historikerstreit“, wie ihn deutsche Wissenschaftler in den 1980ern führten, zunächst lange überfällig – und ist bis heute nicht ausgestanden. Das Spektrum der Streitenden – von marxistischen bis zu reaktionären Positionen – reiche viel weiter in die Extreme. Wolfgang Schwentker weiß, dass die präsidiale Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 vom „Tag der Befreiung“ in Japan große Resonanz fand. Entscheidender aber sei der Tod Hirohitos, des Tenno schon zu Weltkriegszeiten, 1989 gewesen: „Seitdem konnte man offener diskutieren.“
Auch mit seinem eigenen Buch sticht der heute in Mülheim heimische Oberhausener in die „großen Themen der Geschichtspolitik“: Japanische Kriegsverbrecher waren nach der US-Besatzungszeit (bis 1952) bis ins Ministerpräsidentenamt aufgestiegen. Entsprechend langes Schweigen überdeckte die Erinnerung an die Versklavung koreanischer Frauen in Militärbordellen, an die millionenfachen Morde von China bis Indonesien. Selbst in vielen der jüngeren Geschichtsbücher fehlt die Debatte um Japans eigenes Geschichtsbild. „Die Cambridge History of Japan“, so Schwentker, „hört mit dem Kriegsende 1945 auf“.
Kulturtransfer in die bürgerlichen Salons
Verglichen mit deren sechs Bänden, verfasst von einer Autoren-Hundertschaft, sei sein Tausend-Seiten-Werk „schon fast unseriös“, meint der emeritierte Hochschullehrer kokett. Er nennt sein Produkt zehnjähriger Arbeit „ein Angebot, sich einen Überblick zu verschaffen“.
Als nächstes möchte der 69-Jährige – dann wieder mit seinem Hochschulbüro in Osaka als Basis – zur Quellenforschung an einem etwas „kleineren“ Thema zurückkehren. Schließlich gab es um 1900, parallel zum Wachsen der Militärmacht Japans, einen bedeutenden Kulturtransfer mit Europa – bis zum angesagten „Japonismus“ in den Salons des Großbürgertums. Wolfgang Schwentker: „Das wird mich in den nächsten Jahren beschäftigen.“
Aus traditionsreichem Verlagshaus
Erschienen ist Wolfgang Schwentkers „Geschichte Japans“ im traditionsreichen, bald 260-jährigen Verlag C. H. Beck. Das Münchner Haus zählt mit rund 9000 lieferbaren Werken, etwa 85 Fachzeitschriften und einer jährlichen Produktion von bis zu 1500 Publikationen zu den großen deutschen Buch- und Zeitschriftenverlagen.
C. H. Becks kulturwissenschaftlichen Zweig beschreiben Medien gerne als „einer humanistischen Tradition verpflichtet“. In einem Text zum 250-jährigen Verlagsbestehen hieß es in der linken taz: „Mit klassischem Bildungswissen erzielt der Verlag immer noch hohe Auflagen.“
Die „Geschichte Japans“ umfasst 1050 Seiten mit 44 Abbildungen und acht Karten. Das gebundene Buch kostet 49,95 Euro, das E-Book 39,99 Euro, ISBN 978-3-406-75159-2.