Oberhausen. Mit schlimmen Verletzungen am Fuß laufen manche Oberhausener umher – und spüren nichts. Wie es dazu kommt, dass ein Körperteil ausgeblendet wird.

Ein Oberhausener Mann entfernt mit einem Gasbrenner Unkraut in seiner Einfahrt und verbrennt sich dabei versehentlich den kompletten Vorderfuß – doch merken tut er davon nichts. Stattdessen fährt er mit der Gartenarbeit fort und sucht erst nach einigen Tagen einen Arzt auf. Warum dies kein Einzelfall ist und wie es dazu kommen kann, dass Menschen ihre Füße quasi „vergessen“, erklärt ein Oberhausener Chirurg.

Dr. Holger Claßen arbeitet seit 2011 als Chefarzt für Gefäßchirurgie im Evangelischen Krankenhaus Oberhausen (EKO). In seinem Berufsalltag bekommt er die „ganz harten Fälle zu sehen“: Patienten, deren Füße starke Wunden oder sogar abgestorbene Stellen aufweisen und im Extremfall sogar amputiert werden müssen. Während für viele Menschen allein die Vorstellung Ekel hervorruft, gehören verwundete Füße für ihn zum Berufsalltag.

Risikofaktoren: Diabetes, Übergewicht und Bluthochdruck

Ein Großteil seiner Patienten leidet unter dem durch die Zuckerkrankheit hervorgerufenen „Diabetischen Fußsyndrom“, erst kürzlich berichtete diese Redaktion in diesem Zusammenhang über einen Mann, der tagelang mit einem Eisennagel im Fuß herumlief, ohne dies zu bemerken. Doch auch andere Erkrankungen wie Übergewicht, Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen können zu Problemen an den Füßen führen. Auch wenn die meisten der Patienten von Dr. Claßen älter als 40 Jahre sind, gibt es doch immer wieder junge Menschen, die davon betroffen sind – auch 20-Jährige musste der Arzt schon behandeln.

„Auf unseren Füßen lastet das gesamte Körpergewicht, in unserem Leben umrunden wir damit durchschnittlich fast zweimal die Erde. Umso wichtiger ist eine optimale Druckverteilung, so dass nicht einzelne Stellen am Fuß übermäßig belastet werden“, erklärt Claßen im Gespräch. „Wenn diese Druckverteilung nicht ideal funktioniert – beispielsweise durch Fehlstellungen oder eine verringerte Empfindlichkeit der Füße – dann kann es zu einem dramatischen Teufelskreis kommen“.

Verletzte Füße gehören zu seinem Berufsalltag: Als Gefäßchirurg im EKO beschäftigt sich Dr. Holger Claßen mit „den ganz harten Fällen“.
Verletzte Füße gehören zu seinem Berufsalltag: Als Gefäßchirurg im EKO beschäftigt sich Dr. Holger Claßen mit „den ganz harten Fällen“. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Patienten verlieren Zugehörigkeitsgefühl des Fußes

Besonders problematisch ist ein daraus folgender Nervenverlust, durch den das Schmerzempfinden der Patienten an den Füßen erheblich herabgesetzt wird. Beim „Diabetischen Fußsyndrom“ geht dies so weit, dass die Betroffenen das Zugehörigkeitsgefühl des Fußes zum Rest des Körpers teils vollständig verlieren. Claßen führt aus: „Die Patienten denken dann wirklich, dass das nicht mehr ihr Fuß ist, sie nehmen den Fuß gar nicht mehr richtig wahr und merken deshalb auch nicht, wenn sie sich dort verletzen“.

So käme es immer wieder zu Fällen, bei denen Patienten Schrauben oder Nägel im Fuß nicht bemerkten. Auch Verbrennungen, beispielsweise durch zu heiße Wärmflaschen, seien nicht selten. Der Gefäßchirurg erklärt: „Die Leute können sich dann überhaupt nicht erklären, wieso auf einmal der halbe Fuß abgestorben ist. Da kann man sich gar nicht vorstellen, dass diese Leute noch normal draußen umherlaufen, während der Fuß total aufgequollen und entzündet ist“. Umso wichtiger sei es, dass insbesondere Diabetiker ihre Füße regelmäßig sorgfältig untersuchen, idealerweise mit einem Spiegel oder unter Einbezug von Angehörigen, die mitkontrollieren.

Amputation als letztes Mittel, um Leben zu retten

Denn: Ist das Gewebe einmal abgestorben, kann es nicht wieder lebendig werden. Das erklärte Ziel des Gefäßchirurgen und der mit ihm zusammenarbeitenden Ärzte wie Internisten, Hautärzte oder Wundtherapeuten ist es dann, eine sogenannte „Majoramputation“ zu vermeiden. Bei solch einem Eingriff muss der Fuß oberhalb des Sprunggelenks amputiert werden, als letzte Maßnahme, um dem Patienten womöglich sogar das Leben zu retten. Holger Claßen spricht in diesem Zusammenhang von einer „tickenden Zeitbombe“: Stirbt das Gewebe am Fuß ab, kann es im schlimmsten Fall zu Blutvergiftungen kommen – um dies zu vermeiden, führt dann kein Weg mehr an einer Amputation vorbei.

Circa zehn bis 15 Majoramputationen führt Claßen im EKO jährlich durch, häufiger sind Minoramputationen, bei denen beispielsweise einzelne Zehen abgenommen werden müssen. Durch die Zusammenarbeit verschiedener Ärzteteams könne das Amputationsrisiko laut dem Chirurgen allerdings um bis zu 80 Prozent gesenkt werden. Doch immer wieder kämen Leute erst in sehr schwerwiegenden Stadien zum Arzt. Während der Coronapandemie vermehrten sich die „harten Fälle“, vermutlich um sich nicht beim Arzt mit dem Virus zu infizieren, zusätzlich. „Trotzdem ist es uns gelungen, den Großteil der Füße zu erhalten“, zeigt sich Claßen dennoch optimistisch.

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