Oberhausen. „Bis hierher – und weiter“ heißt die Retrospektive von Hildegard Hugo. Im Europahaus reicht das Spektrum von Revier-Ikonen bis Puppen-Spiel.
Doch, Fotografien können musikalisch sein – selbst jene, die weder Musiker noch Tänzerinnen oder Sänger porträtieren, sondern die nächtliche Großstadt. Hildegard Hugo gelingt das in ihren Aufnahmen mit großer Selbstverständlichkeit. Die Bewegung in Bildern wie „Lichtspur“ weckt sogar die Assoziation von Notenlinien. Wer diesem Schwung folgt, dürfte schon erahnen, dass die erste künstlerische Liebe dieser Fotografin der Musik gehörte. 35 Jahre sang die gebürtige Kettwigerin im Philharmonischen Chor von Duisburg. Später etablierte sie sich mit eigenen Programmen gewitzter bis melancholischer Chansons auch auf Kleinkunst-Bühnen – an ihrer Seite der Pianist Wolfgang Müller.
Dieser Kompagnon spielt durchaus eine Rolle auf einigen Bildern der aktuellen Ausstellung „Bis hierher – und weiter“ in der Galerie KiR im Europahaus. Doch zur Fotografie führte die reiselustige Germanistin und Geografin zunächst einmal die Chance, sich von Bolivien bis zur Volksrepublik China in der Welt umzusehen. So entstanden dokumentarische Fotos – aber auch die waren schon viel publiziert: in Schulbüchern. Das schult – ebenso wie jene frühe China-Reise 1984, als sich das kommunistische Reich wenige Jahre nach Maos Tod nur äußerst vorsichtig für westliche Besucher öffnete: Wer mit 30 Rollfilmen im Reisegepäck auskommen muss, wie Hildegard Hugo, knipst nicht einfach drauflos.
Die Tugend des sicheren Blicks und überlegten Auslösens hat sich die Fotografin auch für die digitale Ära bewahrt. Und doch lohnt der Blick zurück, denn die Lust am lichtbildnerischen Experiment zeigt sich schon früh. Wer käme schon vor der Athener Akropolis auf die Idee, die so weihevolle wie leider „totgeknipste“ Geburtsstätte der europäischen Kultur im Spiegelbild eines roten Flutlichtstrahlers zu inszenieren? Dank des getönten Glases scheinen die Touristen jäh entrückt.
„Die bewegte Frau“ als cleveres Puppen-Spiel
Zur künstlerisch-experimentellen Fotografie verführte Hildegard Hugo, seit 2002 Mitglied und inzwischen zweite Vorsitzende bei der Kunstinitiative Ruhr, ein „unmögliches“ Ausstellungsthema: Der klassische „Akt“ sollte das Motto dieser KiR-Gruppenausstellung sein. Hildegard Hugo nannte ihre Werkreihe anspielungsreich „Die bewegte Frau“. Ihr williges Modell waren Kopf und Torso einer Schaufensterpuppe, mit minimalistischem Aufwand verwandelt in archetypische Figuren von „Madonna“ bis „Lulu“. Längst nicht alle Bewunderer hatten den Puppen-Trick sofort erkannt.
Auch ihren Blick aufs „neue“ Revier und die Verwandlung seiner Industriekultur hat die Fotografin mit gesunder Skepsis geschärft. Wie ein Labyrinth wirkt bei Hildegard Hugo das gegen andrängende Wolken fotografierte Gestänge des Bottroper Tetraeders. Die orangeroten Rolltreppen des Weltkulturerbes Zollverein scheinen ins Nirgendwo zu führen. Die feuilletonistisch gefeierten Revier-„Ikonen“ verbindet sie mit der skeptischen Frage: „Wohin?“
„Lichtspiele“ schließlich sind ein spezielles Metier dieser Fotokünstlerin. In der Dunkelheit wirkt fast jede Stadt zumindest ein bisschen glamourös. Mit dieser Aura weiß Hildegard Hugo zu spielen. Denn Bewegung zu später Stunde verlängert das Licht zu Bändern, macht aus schwach glimmenden Punkten in der Dunkelheit strahlende Geheimnisse. Das kann für eine anfahrende Bahn gelten oder für eine mondbeschienene Wasserfläche wie am Duisburger Innenhafen. Und wenn die Lichter der Großstadt nicht tanzen wollen, dann gibt die geübte Hand der Fotografin dem Funkeln einen eleganten Schwung.
Der Abrissbagger als Monsterschädel
Auch der in nüchtern-dokumentarischem Schwarz-Weiß fotografierte Abriss der Duisburger Mercatorhalle 2005 hat grimmigen Biss. Im Bild der Oberhausenerin, die wie so viele Bürger gegen diesen Kulturfrevel protestierte, verschärft sich der Kopf des Stahlbeton knackenden Abrissbaggers zu einem finsteren Monsterschädel.
Ein Jahr später: der Gang durch die Gedenkstätte des NS-Vernichtungslagers Auschwitz. Man kennt den wohl millionenfach fotografierten Turm, jenes düster aufragende Symbol des industrialisierten Mordens und, darauf hinführend, die Bahngleise für die Todeszüge aus halb Europa. Hildegard Hugo war in das leere, staubige Turmgebäude gestiegen. Ihre Kamera zeigt, geteilt durch ein dunkles Fensterkreuz, den entgegengesetzten Blick. Keiner der in Auschwitz Gefangenen und Gequälten hatte je diesen Blick aus einer erhöhten Perspektive.
Beängstigend prophetisch wirkt ihre 2014 geschaffene, satirische Foto-Inszenierung der „Liebe im Plastozän“: Bedeckt von einer transparenten Plastikfolie schließt der müde Liebende die inzwischen vertraute „bewegte Frau“ in seine steril behandschuhten Arme. Das Paar trägt OP-Häubchen und Atemschutzmasken. Dass Fotografie sogar in die Zukunft blicken kann: Zu dieser Erkenntnis verhilft der wache Forschergeist von Hildegard Hugo.
Texte und Musik, inspiriert von Fotoarbeiten
Die Ausstellung „Bis hierher – und weiter“ bleibt bis zum 16. Oktober in der Galerie KiR, Elsässer Straße 21, geöffnet mittwochs und freitags 17 bis 19.30 Uhr, sonntags 16 bis 19 Uhr.
„Bilder einer Ausstellung“ lautet das Motto der Lesung mit Musik am Sonntag, 18. September, um 17 Uhr: Dann liest Hildegard Hugo eigene Texte, die zu einigen Fotoarbeiten entstanden sind. Wolfgang Müller spielt dazu eigene Klavierwerke.