Oberhausen. Der Ukraine-Krieg weckt bei Älteren schlimme Erinnerungen und bei Jüngeren bislang unbekannte Ängste. Die Drähte zur Telefonseelsorge glühen.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begann am 24. Februar 2022. Seit diesem Tag stehen die Apparate der Telefonseelsorge Duisburg, Mülheim, Oberhausen nicht mehr still. Die Bilder flüchtender Menschen und zerstörter Städte wecken bei Älteren schreckliche Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und erfüllen Jüngere mit einer bislang unbekannten Furcht. „Mein Papa kann nicht mehr schlafen“, erzählt eine Oberhausenerin. Immer wieder kämen diese Bilder in ihm hoch.

Ein Sommertag 1944: Da war ihr Vater gerade sieben Jahre alt und spielte mit seinen Mitschülern am Hauptbahnhof einer Nachbarstadt. Der Bombenalarm kam unvermittelt. „Er und sein bester Freund rannten was das Zeug hielt, sie waren die einzigen, die überlebten.“ Die Gräber der fast 30 Kinder, die bei diesem Angriff in den letzten Kriegsmonaten ums Leben gekommen waren, besucht er jedes Jahr an Allerheiligen, um dort Kerzen aufzustellen. „Er hat gelernt, damit zu leben.“ Doch jetzt – durch die überall präsenten Bilder der Kriegsereignisse in der Ukraine – durchlebe ihr Vater den Fliegerangriff erneut, Nacht für Nacht. „Er lässt im Schlafzimmer jetzt immer das Licht an und der Fernseher läuft bis zum Morgen durch.“

Fast die Hälfte der Anruferinnen und Anrufer ist einsam

Olaf Meier, Leiter der Telefonseelsorge Duisburg, Mülheim, Oberhausen, hört in diesen Tagen viele ähnliche Geschichten. Der Diplom-Theologe und -Psychologe sagt: „Gerade in den ersten zwei Wochen war der Krieg in der Ukraine oft das einzige Thema unserer Anruferinnen und Anrufer.“ Vor allem ältere Menschen plagen große Sorgen. „Kommt der Krieg zu uns?“, fragen sie am anderen Ende der Leitung. Oder auch: „Was wird dann aus unseren Kindern, unseren Enkeln?“ Antworten darauf haben die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonseelsorge zwar nicht. „Aber wir können sie erzählen lassen und zuhören.“ Das sei vor allem für die vielen Alleinlebenden wichtig. „Fast die Hälfte unserer Anrufer ist einsam. Von so manchem hören wir: Sie sind heute der erste Mensch, mit dem ich spreche!“, sagt Meier. Die andere Hälfte habe schon Familie. „Doch die will die alten Geschichten meist nicht mehr hören und wiegelt ab.“

Olaf Meier ist Leiter der Telefonseelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen, hier auf einem Bild vom 26.11.2019 in seinem Büro in Duisburg.
Olaf Meier ist Leiter der Telefonseelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen, hier auf einem Bild vom 26.11.2019 in seinem Büro in Duisburg. © FUNKE Foto Services | DANIEL ELKE

Die seelische Not einfach wegzudrücken, sei aber keine Lösung. „Das verschlimmert die Ängste nur“, weiß der Psychologe. Die wichtigsten Aufgaben der Ehrenamtlichen am Telefon seien deshalb Anteilnahme und das gemeinsame Ertragen oft schlimmer Erinnerungen. „Wir dürfen in diesen Gefühlen dann aber auf keinen Fall gemeinsam versumpfen“, betont Meier. Sicher, die Vergangenheit müsse als Teil des eigenen Lebensweges gewürdigt werden. „Ein hilfreicher Umgang damit beinhaltet jedoch, dass man sich klar macht, diese Erlebnisse waren nicht die Endstation des Lebens.“ Die Flucht führte zunächst vielleicht in eine Notunterkunft in einer anderen Stadt, dann in eine andere Schule – nach und nach aber schließlich in ein neues Leben. „Die einen haben einen Beruf erlernt, die anderen haben sich selbstständig gemacht oder eine Familie gegründet.“ Viele schöne Ereignisse kamen dazu. „An diese wecken wir in unseren Gesprächen gezielt ebenfalls die Erinnerungen und ruhig auch den Stolz darauf, was man erreicht hat.“

Team der Telefonseelsorge sucht neue Mitstreiter

125 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter teilen sich bei der Telefonseelsorge Duisburg, Mülheim, Oberhausen den Dienst. Das Telefon ist an sieben Tagen in der Woche, 24 Stunden pro Tag erreichbar. Für jeden Ehrenamtler bedeutet dies inklusive Supervisionen und Fortbildungen rund 16 Arbeitsstunden pro Monat.

Die Zufriedenheit mit der Tätigkeit ist groß. Etwa elf Jahre bleiben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrer Telefonseelsorge im Durchschnitt treu. Aktuell sucht das Team wieder Verstärkung. Ein neuer Lehrgang startet im August. Wer mitmachen möchte, kann sich unter 0203 29513331 an das Büro in Duisburg wenden.

Während Seniorinnen und Senioren die Telefonseelsorge für Beratungs- und Seelsorgegespräche bevorzugt über die kostenfreien Rufnummern 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen, wählen Jüngere eher die vertrauliche Chatberatung oder schreiben eine Mail: Foto:Dahlke/FFS

Doch nicht nur Seniorinnen und Senioren wenden sich an die Telefonseelsorge, sondern auch viele junge Menschen. „Sie berichten davon, wie schwer es für sie ist, dieses Ohnmachtsgefühl angesichts der Kriegsereignisse auszuhalten.“ Eine Generation, für die es selbstverständlich war, im Frieden aufzuwachsen, sei plötzlich zutiefst verunsichert. Und doch: Meier ist beeindruckt über die Lösungsversuche der Jüngeren. „Etliche fragen uns, wo sie mitanfassen können, bei welchem Verein, welcher Organisation sie am effektivsten helfen können.“ Aber auch den jungen Menschen raten die Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge dringend dazu, sich nicht unentwegt die Nachrichten anzusehen, sondern zwischendurch einfach abzuschalten. „Musik hören, spazieren gehen, sich mit Freunden treffen, die Sonne genießen – wem es gelingt, sich täglich etwas Gutes zu gönnen, schützt seine Gesundheit am besten.“