Oberhausen. Die Älteren haben vor vielen Jahrzehnten Schlimmstes erlebt – nun kommt alles wieder hoch. Die einen sind traurig und still, die anderen weinen.
Sie haben die schlimmsten Verheerungen des 20. Jahrhunderts mitgemacht, mussten im Zweiten Weltkrieg fliehen, verloren Mutter, Vater, Ehemänner – und der brutale Angriffskrieg des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin auf die unabhängige demokratische Ukraine lässt längst verdrängte, schreckliche Erinnerungen wieder aufleben.
„Bei uns leben auch annähernd Hundertjährige, für die der Ukraine-Krieg viel schlimmer ist als die Pandemie. Viele sind erschüttert, ich sehe Tränen in ihren Augen, eine Dame habe ich in den Arm genommen, versucht zu trösten“, erzählt Manfred Lübke, Leiter der ASB-Seniorenzentren in Oberhausen-Holten und am Annemarie-Renger-Weg im Knappenviertel. „Ich habe ihr nur gesagt, ich weiß, es ist schlimm – und sie hat Ja gesagt und genickt.“
Die Stimmung in den Altenheimen ist sehr gedrückt
Die Bewohner der Heime würden auf die Kriegsnachrichten sehr unterschiedlich reagieren. „Insgesamt ist bei allen, auch bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Stimmung sehr gedrückt und angespannt, das lässt sich nicht verbergen. Einige Bewohner wollen über ihre Erlebnisse reden, andere sitzen traurig und leise in der Ecke.“
Von lebhaften, hochemotionalen Diskussionen berichtet Stefan Welbers, Leiter des Sterkrader Neuapostolischen Seniorenzentrums Gute Hoffnung. „Es sind auch viele Tränen geflossen, die Menschen hier machen sich erhebliche Sorgen – auch darüber, dass der Krieg auf uns übergreift.“ Die älteren Bewohner hätten die tiefgreifenden Folgen für die Bevölkerung in Kriegszeiten und danach selbst erlebt und reagierten deshalb so betroffen. „Eine über 90 Jahre alte Frau hat mir ihre Ängste geschildert, dass es auch hier losgeht. Sie hat nicht den Eindruck, dass das unter Kontrolle ist.“
Die Leitungen der Pflegeheime in Oberhausen reagieren ähnlich auf die ungewohnte Situation – ignorieren kann und sollte man trotz der üblichen Hektik des Alltags die Gefühle der Bewohner nicht. „Wir lassen diejenigen, die reden wollen, natürlich reden und hören zu. Aber die Schweigsamen sprechen wir auch an“, berichtet Lübke. Er beobachtet, wie selbst längst verheilte Wunden wieder aufbrechen. „Vor allem Frauen haben Schlimmstes erlebt, verloren ihre Angehörigen, wurden vergewaltigt – und haben nie darüber gesprochen: Sie haben eine dicke Decke darübergelegt. Da kommt jetzt wieder vieles hoch.“
Großer Redebedarf der jungen Pflegekräfte: Ich habe Angst
Jedoch nicht nur die Älteren, sondern vor allem auch die jungen Pflegekräfte sind verstört. „Sie haben alle hier Redebedarf, sagen mir: Ich habe Angst – und wollen von mir Ratschläge hören“, sagt Welbers. Vor allem die atomare Drohung an den Westen durch Putin hat die Kolleginnen und Kollegen in große Sorge versetzt. „Sie haben ja nicht die 70er und 80er Jahre, die Diskussionen um den Nato-Doppelbeschluss in Zeiten des Kalten Krieges erlebt wie unsere Generation.“ Damals habe man unter ständiger atomarer Bedrohung gelebt – ohne dass am Ende etwas passiert sei.
Was die meisten Menschen in Europa empfinden, empfinden auch die Bewohner und Beschäftigte der Oberhausener Pflegeheime: „Wir fühlen uns hilflos und ohnmächtig.“ Welbers hat daraus erste Schlussfolgerungen gezogen: Er will mit allen zusammen draußen ein Zeichen setzen.
„Wir können mit unseren hochbetagten Bewohnern nicht auf Demos mitmarschieren, aber wir werden an unseren Fahnenmasten die europäische und die ukrainische Fahne hochziehen.“ Die blau-gelbe Ukraine-Fahne ist bereits bestellt, bis zur Lieferung dauert es noch einige Tage – denn derzeit wollen viele Menschen zumindest ihre Solidarität zeigen und gegen den Krieg protestieren.
Über 20 Altenpflegeheime im Stadtgebiet
21 Altenheime mit privaten und sozialen Betreibern bieten in Oberhausen mit seinen 210.000 Einwohnern über 2100 stationäre Pflegeplätze an, die recht gut ausgebucht sind.
Denn etwa 1900 Menschen sind im Stadtgebiet so hilfsbedürftig, dass sie im Pflegeheim wohnen müssen.