Oberhausen. Ein Oberhausener kann keinen Arzt finden, der seinen 94-jährigen Schwiegervater zu Hause impft. Steckt ein strukturelles Problem dahinter?

Ein 94-Jähriger benötigt dringend eine Auffrischungsimpfung. Doch die erhält er nicht, weil sein Arzt keine Zeit für Hausbesuche hat. Der Oberhausener hat den Pflegegrad 3, er ist nicht mehr mobil und wird daheim von seinen Angehörigen betreut. Damit scheint sich zu wiederholen, was vielen Familien schon im Frühjahr bitter aufstieß: Zu Hause betreute Pflegebedürftige fallen erneut durch alle Raster.

Norbert Becker, der Schwiegersohn des 94-Jährigen, hatte sich verzweifelt an diese Redaktion gewandt. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter“, erzählt der 68-Jährige, der sich auch noch um seine krebskranke Frau kümmert. Auch für sie hatte er zunächst keinen Booster-Termin erhalten können. Das änderte sich erst, als die 62-Jährige nach einem unglücklichen Sturz in der Kurzzeit-Pflege landete: „Sie wurde dort im Rahmen einer Corona-Impfaktion kurzerhand mitgeimpft.“ Bleibt der ungeimpfte Schwiegervater, um den sich Becker mit Blick auf die steigenden Corona-Zahlen sorgt. „Der Pflegedienst kommt ja auch täglich zu ihm.“

Im Juli 2021 hatte der 94-Jährige eine Einmal-Impfung mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson erhalten. Weil dieser gegen die Delta-Variante aber kaum wirkt, empfiehlt die Ständige Impfkommission längst eine Booster-Impfung bereits nach vier Wochen. Alarmiert schaltete Becker nach der Abfuhr durch den Hausarzt seines Schwiegervaters sogar das Büro des Oberbürgermeisters ein und bat auch noch die Feuerwehr um Hilfe. „Die Feuerwehr hat mir geraten, mich an die Kassenärztliche Vereinigung zu wenden, die gaben mir aber nur den Hinweis, ich soll mich an den Hausarzt wenden – ich dreh mich im Kreis, was soll ich tun?“

Kommunikationsprobleme durch gestresstes Praxispersonal und ängstliche Patienten?

Monika Idems, Sprecherin des Oberbürgermeisters, bestätigt auf Nachfrage dieser Redaktion: „Der Fall ist bei uns bekannt, der Krisenstab arbeitet an einer Lösung.“ Tatsächlich bemühte sich Dr. Stephan Becker, der die Hausärzte im Krisenstab vertritt, hinter den Kulissen bereits darum, den Fall zu klären. Dabei erfuhr der Vorsitzende der Kreisstelle Oberhausen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein: „Der Hausarzt räumte ein, dass seine Praxis telefonisch – so wie aber alle anderen Praxen zur Zeit auch – nur schlecht zu erreichen ist, wunderte sich aber darüber, dass Herr Becker nicht einfach eine Mail geschickt hatte.“ Der Schwiegersohn sei zwar zweimal selbst in der Praxis gewesen, um ein Rezept für seinen Schwiegervater abzuholen und habe dabei wohl auch um einen Impfbesuch daheim gebeten.“ Eine Arzthelferin hätte das aber mit den Worten „Sie sehen doch, was hier los ist, dafür haben wir keine Zeit“ abgelehnt. Das habe allerdings nur für die aktuellen Tage gegolten. „Mir hat der Hausarzt die Auffrischungsimpfung jedenfalls jetzt in den kommenden Tagen zugesagt“, versichert der KV-Sprecher. Norbert Becker ist erleichtert.

Dr. Stephan Becker glaubt an Kommunikationsprobleme, „die bei gestresstem Praxispersonal einerseits und ungeduldigen Patienten andererseits schon einmal eskalieren können“. Auch Christopher Schneider, Sprecher der KV Nordrhein, betont: „Nach unserer Wahrnehmung führen die Haus- und Fachärzte auch die Auffrischimpfungen von Pflegepatienten in eigener Häuslichkeit seit Anfang September reibungslos durch, gegenteilige Hinweise liegen uns jedenfalls nicht vor.“ Sollte eine Praxis aber einmal signalisieren, dies im derzeit extrem ausgelasteten Praxisalltag aus Kapazitätsgründen zeitnah nicht zu schaffen, empfehle er, eine alternative Praxis in der Nähe zu kontaktieren. „Das habe ich natürlich als erstes getan – aber auch bei allen anderen Praxen hatte ich nur Absagen erhalten“, hält Norbert Becker allerdings dagegen. Er glaubt nach wie vor an ein strukturelles Problem.

Eine sehr belastende Situation auch für die Angehörigen

Der Sozialverband VdK hatte im August 2021 die Ergebnisse einer Pflegestudie vorgestellt. Danach gehören die rund 3,1 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland, die zu Hause leben, und ihre pflegenden Angehörigen zu den Vergessenen der Corona-Pandemie.

Die Pandemie-Zeit empfanden Betroffene als sehr belastend, das sagen 78 Prozent der pflegebedürftigen Menschen und 84 Prozent der Angehörigen. Die Angst vor einer Ansteckung bleibt hoch. Dazu kommt: Knapp 60 Prozent der Angehörigen gehören selbst zu einer Hochrisikogruppe: Damit betreuen in der Pandemiezeit pflegende Hochrisikopatienten pflegebedürftige Hochrisikopatienten.

Eine generelle Lösung für zu Hause lebende Pflegebedürftige ist aber nicht in Sicht. „Die Stadt Oberhausen plant derzeit kein eigenes, aufsuchendes Impfangebot für immobile Bürgerinnen und Bürger, die eine Corona-Impfung brauchen“, sagt Monika Idems. Krisenstabsleiter Michael Jehn ergänzt: „Die Stadtverwaltung verfügt zurzeit über kein mobiles Impfteam und ist vom Land nur beauftragt, dezentrale Impfstellen aufzubauen.“ Dafür seien fünf Ärztinnen und Ärzte abgestellt worden. „Wir setzen gerade alle unsere Kräfte in diesen stationären Impfstellen ein, damit wir so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich impfen können – mit Booster-Impfungen, aber auch mit Erst- und Zweitimpfungen.“ Damit bleiben Pflegebedürftige daheim nach wie vor auf ihre Hausärzte angewiesen.