Oberhausen. Das Ensemble „Le Fleur“ reißt die „1000 Seiten Geschichtsfälschung“ in „Vom Winde verweht“ in Fetzen. Tanzfilm plädiert für Kultur des Löschens.

Im Programmbuch der aktuellen Theaterspielzeit ist „Sturmtief O’Hara“ unter den Wiederaufnahmen einsortiert – dabei erlebt der Tanzfilm von Monika Gintersdorfer und ihrem Ensemble „Le Fleur“ erst jetzt seine digitale Premiere. 18 Monate Pandemie haben eben nicht nur Zeitpläne durcheinander gewirbelt, sondern auch den Charakter einiger Produktionen auf den Kopf gestellt.

Ließen sich „Nebraska“ mit dem heimlichen Co-Autor Bruce Springsteen oder auch „Der Ursprung der Liebe“ nach der Graphic Novel von Liv Strömquist auch als bezaubernde Live-Abende im Großen Haus und im Saal 2 denken, so würde dieses Format für die Abrechnung mit Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“ praktisch eine weitere Neuproduktion bedeuten. Denn die Schauplätze wechseln zwischen Probenbühne und Dachterrasse, Apartmentzimmern und Grabeland sowie dem Oberhausener Idyll am Ruhrdeich. Erwarte bloß niemand den weißen Säulenprunk einer Südstaaten-Plantage wie „Tara“.

„Tausend Seiten Geschichtsfälschung“ – die drei Worte aus einem der vielen Zwischentitel könnten genügen als Essenz wochen- bis monatelanger Arbeit am Über-Kitsch vermeintlicher Sezessionisten-Galanterie. Nach einer von anderthalb Filmstunden reißt Monika Gintersdorfer den dickleibigen Roman in Fetzen. Man will sich ja wahrlich nicht schützend vor einen zutiefst verlogenen Schmatzfetzen werfen – doch die Regisseurin liefert damit ein bedenkliches Plädoyer für das Bilderstürmer-Ethos der „Cancel Culture“.

Digitales Theatererlebnis

Die digitale Premiere von „Sturmtief O’Hara“ beginnt am Samstag, 13. November, um 19.30 Uhr. Der Stream bleibt abrufbar bis Freitag, 19. November.

Weitere Infos unter www-theater-oberhausen.de. Karten für das digitale Streaming gibt es zu 25, 15 und 5 Euro. Der entsprechende Kartenlink wird nach der Buchung versendet.

Zudem fragt sich der geduldige Betrachter: Wofür der beträchtliche inszenatorische und choreographische Aufwand, um ein „toxisches Kulturgut“ zu widerlegen, das sich so offensichtlich längst überlebt hat? Weil „Vom Wind verweht“ als Neuübersetzung immer noch ein Bestseller ist? Weil der 1939 mit zehn Oscar überhäufte Film noch immer für reichlich Online-Umsätze sorgt?

Vielfache Wutreden und deutlich bezwingendere Tanzszenen machen „Sturmtief O’Hara“ zu einem Plädoyer, „die vielen Kulturgüter, die verseucht sind“ – ja was? Zu verbieten? Ihre Spuren rückstandslos zu tilgen?

Verführerische Choreographien

Die Choreographien dieses Diskursfilms sind zum Glück ungleich verführerischer als seine Politik – und gleiches galt ja auch für die eröffnende Ballszene in „Vom Winde verweht“, dem Sahnebaiser von David O. Selznicks Überwältigungsästhetik. Die sich an ihm und an Margaret Mitchell Abarbeitenden tanzen einen parodistischen Walzer auf der lichtdurchfluteten Buschhausener Probenbühne. Sie verwandeln den Walzer, „diesen steifen, weißen Tanz“ in einen Pas de deux mit der Peitsche. Die Kamera von Felix Schoeller ist dabei ebenso tänzerisch in Dauerbewegung wie das Ensemble, kombiniert aus „Le Fleur“ und Oberhausener Schauspielerinnen.

Ein so widerwilliges wie sehnsuchtsvolles Plädoyer für die „Camp“-Qualitäten des fast vierstündigen MGM-Monstrums mit Vivien Leigh und Clark Gable hält Alex Mugler: „Die Opulenz des alten Südens! Und sie wussten, wie man Make-up aufträgt.“ Auch Monika Gintersdorfer gesteht der Kamera: „Ich bin voll drauf reingefallen“ – als Zwölfjährige.

Hattie McDaniel (1893 bis 1952) hatte als erste „Person of Color“ der Filmgeschichte einen Oscar erhalten, für ihre Rolle als Sklavin „Mammy“. Die Oscar-Rede, die 82 Jahre später Shari Asha Crosson teils spricht, teils singt, ist dann statt braven Danks ein Aufruf zur Empörung – und trotz des fast leeren Theatersaals mitreißender als jene Szenen, die dem „La Fleur“-Team eher zu einem dreisprachigen Geschichtsseminar geraten: Man muss schon sehr fit sein in der US-Historie des 19. Jahrhunderts, um sofort zu erkennen, was die Epoche der „Reconstruction“ mit heutigen deutschen „Reichsbürgern“ zu tun haben soll.

Damit verlässt der Film vollends die toxische Romanvorlage: Drei kraftvoll getanzte Szenen widmet das Ensemble als Hommagen der Ashanti-Kriegerin Yaa Asentewaa, sowie Harriet Tubman, die 20 mal unter größter Gefahr in die Südstaaten reiste, um Sklaven zu befreien, und ihrem Mitstreiter Frederick Douglass, der als berühmtester Redner seiner Zeit gegen das Verbrechen der Sklaverei auftrat. Als Choreographen finden Gintersdorfer und Franck Edmond Yao eben die stärksten Bilder – ganz ohne den Reifrock-Plunder von „Im Winde verweht“.