Oberhausen. Corona hat die Lage verschärft: Immer mehr Kinderärzte in Oberhausen wenden sich wegen immer jüngerer dicker Patienten ans Adipositas-Zentrum.

Beim Tanken noch einen Schokoriegel gekauft, im Einkaufswagen landen Fertiggerichte und Chips. Oberhausener Eltern geben allzu häufig weiter, was sie selbst erfahren haben: eine riskante Ernährung. Jeder zehnte Erstklässler in der Stadt ist zu dick. Ein Problem, das sich durch die Corona-Krise verschärft hat. Das Oberhausener Adipositas-Kompetenzzentrum „wohl & gesund“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Kreislauf zu unterbrechen.

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Die Oberhausener Schuleingangsuntersuchungen 2019 zeigen: Insgesamt bringen zwölf Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen zu viel auf die Waage. Vergleichszahlen für 2020 liegen laut Stadtsprecher Frank Helling durch die coronabedingt verkürzten Schuleingangsuntersuchungen zwar nicht vor, doch Helling verweist auf den Oberhausener Bildungsreport 2019: „Darin ist für den Zeitraum von 2014 bis 2018 ein Wert zwischen 11,2 und 11,7 Prozent festgehalten, deshalb gehen wir davon aus, dass der Anteil übergewichtiger Kinder auch in diesem Jahr ähnlich hoch ist.“

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Meist sind es auch in Oberhausen die Kinderärzte, die Alarm schlagen. Denn sie behandeln zunehmend „Alterserkrankungen“ wie Herz-Kreislauf, Diabetes, Gelenkprobleme, Leberverfettung – und Depressionen. Die Aussichten sind düster: In der Kind­heit entwickeltes Übergewicht wird oft ein Leben lang beibehalten. Genau hier setzt das Team von „wohl & gesund“ an.

Süßigkeiten zur Steigerung des Wohlbefindens

„Wir kennen es alle: Essen ist mit Emotionen verknüpft“, sagt Sabine Lux. Die Psychologin hat mit dem Ernährungsspezialisten Thomas Duchcik die Leitung des Oberhausener Adipositas-Zentrums übernommen.

Psychologin Sabine Lux vom Adipositas-Zentrum in Oberhausen weiß, wie sehr Gefühle und Essen miteinander verknüpft sind.
Psychologin Sabine Lux vom Adipositas-Zentrum in Oberhausen weiß, wie sehr Gefühle und Essen miteinander verknüpft sind. © FFs | Kerstin Bögeholz

„Das Kind bekommt eine Impfung, der Arzt tröstet mit einem Bonbon. Der Kleine hatte einen blöden Tag in der Schule, Mama spendiert eine Tüte Chips und lenkt den Sohn mit Fernsehgucken ab.“ Insgeheim vielleicht auch, weil sie einfach ihre Ruhe haben will? „Ja, bei Überlastung greifen Eltern gerne zu diesen Mitteln.“ Und: „Es gibt Kinder, die ihre Gefühle nur noch übers Essen regulieren können.“

Der gelernte Koch und studierte Ernährungsexperte Thomas Duchcik weiß: „Es gibt Eltern, die nie gelernt haben zu kochen.“ Aus diesem Grund will das Zentrum auch reine Kochkurse anbieten.

Die Corona-Krise hat die Lage nach Beobachtung der Experten für viele Kinder verschlechtert. „Die Eintönigkeit, das enge Aufeinanderhocken in den oft viel zu kleinen Wohnungen – das führte in den Familien zu Stress“, sagt Lux. Stress, der oft mit Essen kompensiert wurde.

Das Zentrum besteht seit einem Vierteljahrhundert

Das Adipositas-Zentrum Oberhausen besteht inzwischen seit 25 Jahren. Es wurde bis Ende 2019 von Dr. Annette Chen-Stute geleitet. Sowohl Ökotrophologe Thomas Duchcik als auch Psychologin Sabine Lux waren vor der Übernahme bereits drei Jahre lang in der Einrichtung tätig.

Künftig ist auch eine engere Zusammenarbeit mit der Stadt Oberhausen geplant, unter anderem mit Blick auf Angebote für Migranten.

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes gibt es in Oberhausen mehr als 3000 Erwachsene mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 40.

Das Zentrum bietet eine Behandlung ab acht Jahren an, registriert jetzt aber zunehmend Anfragen von Ärzten für Kinder unter acht Jahren. 15 solcher Einzelfälle werden aktuell betreut. Dazu kommen vier Gruppen für Kinder und Jugendliche von acht bis 17 Jahren mit jeweils rund zehn Teilnehmern. „Plus der Eltern“, sagt Duchcik. Denn ohne die geht es nicht.

In den Gruppen lernen die Kinder, dass auch gesundes Essen Spaß macht. „Mit den Kleineren fertigen wir

Thomas Duchcik ist Ernährungsspezialist und geschäftsführender Leiter des Adipositas-Zentrums in Oberhausen.
Thomas Duchcik ist Ernährungsspezialist und geschäftsführender Leiter des Adipositas-Zentrums in Oberhausen. © FFs | Kerstin Bögeholz

Plätzchen aus Obst und Gemüse an“, erzählt Duchcik. Mit den Größeren geht es ans Eingemachte: Was macht mich glücklich? Was brauche ich wirklich? Wie bremse ich Oma aus, wenn sie mich nötigt, ein zweites Stück Kuchen zu essen?

Mädchen stark unter Druck

Auch die Rolle der sozialen Medien wird hinterfragt. Denn die dort vorgegaukelte Scheinwelt mache insbesondere Mädchen zunehmend zu schaffen. „Die Mädel sehen da nur hübsche, schlanke, super-gestylte Frauen.“ Mit dem Ergebnis, dass sie frustriert seien, sich von Gleichaltrigen isolierten, depressiv würden. „Und noch mehr essen.“

Die Fachleute des Zentrums setzen auf die positiven Kräfte ihrer Teilnehmer. „Wir helfen den Kindern, den Blick auf ihre guten Seiten zu richten, sich selbst neu zu entdecken.“ Dabei helfen Achtsamkeitsübungen, eine Einführung in eine gesunde Ernährung, Bewegung. Die Nachfrage nach Therapie-Plätzen am Adipositas-Zentrum in Oberhausen steige auch deshalb, weil in der Region reine Therapie-Einrichtungen Mangelware seien. Viele Zentren seien inzwischen an Kliniken angegliedert, um dort auch Eingriffe wie eine Magenverkleinerung anbieten zu können.

Operiert wird nur bei extremstem Übergewicht

Das ist etwa auch an der Oberhausener Helios St.-Elisabeth-Klinik möglich. Im dortigen Adipositas Zentrum West arbeiten Internisten, Chirurgen, Ernährungsmediziner, Physiotherapeuten, Psychologen und Diabetologen standortübergreifend zusammen. Ziel der internistischen Therapie dort ist es ebenfalls, die Lebensqualität durch eine Gewichtsreduktion, eine Verhaltens- und Ernährungsschulung zu verbessern. Chirurgische Behandlungsverfahren bilden eine zusätzliche Möglichkeit.

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Aber Helios-Sprecherin Christina Fuhrmann betont: „In unserem Zentrum werden nur Patienten mit Extremformen der Adipositas, also einem Körpermasseindex (BMI) über 50 oder schwerwiegenden Begleiterkrankungen wie Diabetes operiert.“ In diesem Jahr betreute Helios (bis zum 31. Oktober) 232 übergewichtige Patienten, 151 davon wurden operiert. 2019 waren es 281 Patienten, von denen 107 operiert wurden.

Das Zentrum „wohl & gesund“ in Oberhausen versucht, der Fettleibigkeit stets ohne Magenoperation zu begegnen. Psychologin Sabine Lux ist davon überzeugt, dass ein Mensch, der teils Jahrzehnte mit 200 Kilogramm und mehr verbracht hat, langsam von seinem Gewicht entwöhnt werden muss. Geduld sei gefragt: Erwachsene Patienten benötigten in der Regel rund drei Jahre dafür.