Oberhausen. Die Filmgalerie 451 hütet den filmischen Nachlass des Regie-Rebellen und ermöglicht die Auswahl von Kurzfilmen bis zum „Kettensägenmassaker“.
Der Oberhausener Allround-Künstler Christoph Schlingensief – der von der Film- und Bühnen-Regie über Happenings und Hochschul-Professur bis zum Operndorf im westafrikanischen Sahel kein Metier ausließ – hätte am 24. Oktober seinen 60. Geburtstag. Das Theater Oberhausen stimmt sich mit einer Filmreihe im September ein auf ein rund um den 24. Oktober angekündigtes dreitägiges Spektakel.
Denn der vor zehn Jahren verstorbene Provokateur und Moralist sei „jemand, der immer noch und immer mehr schmerzlich fehlt“, meint Dramaturg Raban Witt. Im Mittelpunkt der besonderen Geburtstagsfeier steht die Uraufführung eines Films im Schlingensief’schen Geiste, „Das Massaker von Anröchte“, gedreht in Oberhausen nach einem Skript des Theater-Querdenkers Wolfram Lotz.
Doch zuvor gibt’s ausgewählte Schlingensief-Originale, präsentiert im Lichtburg Filmpalast und ermöglicht dank der Berliner Filmgalerie 451, die 20 Jahre mit dem rebellischen Apothekersohn zusammengearbeitet hatte – seit es 1990 galt, „Das deutsche Kettensägenmassaker“ auf VHS-Video herauszubringen. Als Christoph Schlingensief in seinem letzten Lebensjahr die Vorbereitungen für die 2011er Biennale di Venezia nicht mehr vollenden konnte, restaurierte das „451er“ Team alle Spielfilme digital, um eine Auswahl der Werke im Deutschen Pavillon am Lido von Venedig zu zeigen: Dafür gab’s den „Goldenen Löwen“ der 54. Biennale.
Berufene Hüter des filmischen Nachlasses
Diese berufenen Hüter des filmischen Nachlasses – inklusiver sämtlicher Interviews und TV-Dokumentationen – zeigen nun fürs Oberhausener „Schlingensief-Kino“ alle zwei Wochen von Samstag, 5. September, an eine Werkauswahl im „Gloria“-Saal der Lichtburg. Zu sehen sind bisher selten vorgeführte und nun restaurierte Filme Schlingensiefs, lose orientiert an der Reihenfolge ihrer Entstehung. Zu allen Terminen gibt’s ein Nachgespräch mit Gästen, die an der Entstehung der Filme beteiligt waren.
Zu ihnen zählen Susanne Bredehöft, die lange im Ensemble des Theaters Oberhausen wirkte, und Dietrich Kuhlbrodt. Den inzwischen 87-jährigen Juristen, der als Oberstaatsanwalt in Hamburg NS-Verbrechen verfolgte, hatte Christoph Schlingensief als Schauspieler für seine Film-Spektakel entdeckt. Kuhlbrodt bündelte seine Erfahrungen als Filmkritiker und Staatsanwalt in dem Buch „Deutsches Filmwunder – Nazis immer besser“, einer umfassenden Kritik der Darstellung der NS-Zeit im deutschen Film.
Am Rande des Nervenzusammenbruchs
Das „Schlingensief-Kino“ in der Lichtburg startet denn auch am Samstag um 19.30 Uhr mit einer „Trilogie zur Filmkritik“ von 1983: Los geht’s mit den beiden Kurzfilmen „Phantasus muss anders werden“ und „What happened to Magdalena Jung“. Schlingensief selbst schreit es in die Kamera: „Jetzt wird alles anders!“ Der 70-minütige Hauptfilm des Eröffnungsabends heißt „Tunguska – die Kisten sind da“. Schlingensief lieferte zu diesem Frühwerk das so knappe wie pointierte Resümee: „Avantgardeforscher am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein Pärchen auf der Suche nach Benzin und Alfred Edel, der sie alle fertigmacht.“
1988 inszenierte der meist unterfinanzierte, aber stets mit genialischen Querköpfen arbeitende Regisseur „Mutters Maske“ mit Udo Kier, einem seiner favorisierten Mimen, neben Helge Schneider und Charly Weiss. Der Film war eine surrealistische Variation des superpathetischen 1944er Melodrams „Opfergang“ von Veit Harlan. Die Lichtburg zeigt zunächst am Samstag, 19. September, um 19 Uhr den Farbfilm des NS-Propagandisten mit Harlans Ehefrau, der als „Reichswasserleiche“ bespöttelten Schwedin Kristina Söderbaum, und um 19.30 Uhr „Mutters Maske“.
Der irrtümliche Videotheken-Renner
Am Tag der deutschen Einheit, 3. Oktober, gibt’s dann geschmackssicher jenen Videotheken-Renner des Jahres 1990, den vor 30 Jahren viele Horror-Fans mit grundfalschen Erwartungen abgriffen: „Das deutsche Kettensägenmassaker“. Nein, dies war nicht das „Texas Chain Saw Massacre“ von Tobe Hooper, dessen B-Klassiker bis 2011 wegen „Gewaltverherrlichung“ indiziert war. Aber im Nachgespräch kann Susanne Bredehöft vielleicht mehr über die gewollte Verwechslung erzählen.
Lichtburg zeigt heute noch einmal die Schlingensief-Doku
Der Eintritt zu allen Filmabenden des „Schlingensief-Kinos“ kostet jeweils 5 Euro. Karten gibt’s im Lichtburg Filmpalast. Als Beitrag der Frauenfilmtage „Visuelle“ läuft an der Elsässer Straße 26 am Mittwoch, 2. September, um 17.45 Uhr noch einmal die zweistündige Dokumentation „Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien“ von Bettina Böhler, der langjährigen Editorin des Regisseurs.
Die Theater-Partner der Filmgalerie 451 erschließen für DVD nicht nur die Spielfilme Christoph Schlingensiefs, sondern auch Aufzeichnungen seiner Bühnen-Inszenierungen und Happenings – bis zum „Fliegenden Holländer“ in Manaus – dem berühmten „Opernhaus am Amazonas“. Jeweils im Oktober wollen die Berliner neue oder restaurierte Arbeiten veröffentlichen. Bisher sind 15 DVDs ihrer Schlingensief-Edition erschienen.
Zum letzten Termin des „Schlingensief-Kinos“ mit „Menu Total“ am Samstag, 17. Oktober, ist dann der Punk-, Pop- und Genrekino-erfahrene Dietrich Kuhlbrodt der Gesprächspartner (der übrigens auch schon beim deutsch-deutschen „Kettensägenmassaker“ mitmetzelte). Eine appetitliche Werkauswahl – es ist angerichtet.