Oberhausen. Wie kommt eine Straße in Oberhausen zum Namen des Verteidigers von Kolberg? Den Seemann feierten erst Demokraten – und später die NS-Propaganda.
Der Abstand zwischen gerechter Empörung und Geschichtsklitterung kann sich zu einem schmalen Grat verengen. Die Debatte um belastete – oder vermeintlich belastete – Straßennamen ist auch in Oberhausen eröffnet. So hat die Initiative „Tear this down – Kolonialismus jetzt beseitigen“ für Oberhausen schon mal die Nettelbeckstraße in Alsfeld gelistet.
Joachim Nettelbeck (1738 bis 1824) war in den jungen Jahren seines 85-jährigen Lebens ein Seemann im berüchtigten „Dreieckshandel“ zwischen Europa, Westafrika und der Karibik: ein Sklavenhändler. Aber der Preuße aus Kolberg in Pommern war – zumal beim Blick auf den bemerkenswerten Wandel seines Nachruhms im Lauf des 19. Jahrhunderts – viel mehr: ein Volksheld für die mutigen Demokraten, die sich in den Jahrzehnten der Restauration gegen fürstliche Willkür stemmten. Und NS-Propagandaminister Joseph Goebbels bestimmte ihn zum Helden des teuersten und sinnlosesten aller NS-Propagandafilme.
Friedrich der Große würdigte ihn keiner Antwort
Zu dieser bizarren Karriere nach seinem Tod hat Joachim Nettelbeck bemerkenswert wenig beigetragen. Pommersche Querköpfigkeit darf man ihm allerdings unterstellen. Als der Sohn eines Braumeisters als Elfjähriger mit dem Schiff seines Onkels nach Amsterdam reisen durfte, schlich sich das abenteuerlustige Kind unter Deck eines Ozeanseglers, um erst auf hoher See wieder aufzutauchen. Das Schiff gehörte einem Sklavenhändler – und Joachim Nettelbeck war auf der „Dreiecksroute“ zum Schiffsjungen geworden.
Auch als junger Erwachsener trat der Kolberger mehrmals in holländische Dienste und tauschte in Guinea versklavte Menschen gegen Waffen, Schießpulver, Schnaps und Glasperlen. Zudem schrieb Nettelbeck, nun sesshaft in Kolberg, im Laufe der Jahrzehnte an gleich drei preußische Könige, um sie von den Vorteilen einer eigenen Kolonie in der Karibik zu überzeugen: Ein Großteil der langen Guyanaküste sei noch nicht erschlossen. Friedrich der Große würdigte ihn keiner Antwort; Friedrich Wilhelm II. ließ die „Preußische Seehandlung“ abwinkend antworten: Preußen sah sich (jedenfalls damals) nicht als Seemacht.
Das gedemütigte Preußen feierte den „Retter von Kolberg“
Seine Fußnote in den Geschichtsbüchern eroberte sich Joachim Nettelbeck denn auch nicht als Möchtegern-Kolonialist, sondern erst als 68-jähriger „Bürgerrepräsentant“: Mit hohem persönlichen Risiko betrieb er die Ablösung des unfähigen Militärkommandanten, um seine belagerte Heimatstadt mit dem neuen Kommandanten Gneisenau gegen die Truppen Napoleons zu verteidigen.
Damit wurde er im gedemütigten Preußen zum „Retter von Kolberg“, zumal der öffentlichkeitsbewusste Nettelbeck seine Tagebücher der Belagerung publizieren ließ. Die geschmähten Militärs überzogen den alten Mann mit Verleumdungsklagen, doch der König, jetzt Friedrich Wilhelm III., begnadigte ihn.
Nettelbeck war wohl alles andere als ein kriecherischer Untertan – und avancierte dank dieses (Selbst-)Bildes in den bleiernen Jahren vor 1848 zum Muster des „Bürgers und Patrioten“, der für seine Rechte einstand. Ausgerechnet mit dem Drama „Colberg“ des späteren Nobelpreisträgers Paul Heyse wurde der Volksheld der Liberalen zum Nationalkonservativen. 1868 war das Schauspiel noch wegen „demokratischer Tendenzen“ für staatliche Bühnen verboten – eine Generation später war’s gymnasialer Unterrichtsstoff.
Kaum jemand sah den teuersten aller NS-Propagandafilme
Bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs sollte der Heroismus von „Colberg“ allerdings nicht tragen. Goebbels beauftragte Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Hetzfilms „Jud Süß“, mit der „Kolberg“-Saga für Durchhaltewillen zu sorgen. Für den teuersten aller NS-Propagandafilme wurden tausende Soldaten von der Front abgezogen, um sich als napoleonische Belagerungstruppen zu kostümieren. „Kolberg“ mit Heinrich George als Nettelbeck kam am 30. Januar 1945 in die wenigen unzerstörten Kinos.
Wenige Wochen später sollte die Rote Armee das Städtchen Kolberg an der Ostsee erreichen. Und das Kinopublikum sah sich lieber die überzeugenderen Lügengeschichten des anderen teuer produzierten UFA-Farbfilms an: „Münchhausen“ mit Hans Albers in der Titelrolle.