Oberhausen. Drei Tage lang beschäftigen sich 400 Fachärzte auf einem Kongress in Oberhausen mit der Gefäßchirurgie – inklusive einiger Tabuthemen.
Fünf Jahre nach dem Terror-Jahr in Paris mit 148 Toten diskutieren Gefäßchirurgen aus ganz Deutschland in Oberhausen über ein heikles Thema: Wie müssen Mediziner vorgehen, wenn bei einem Anschlag Dutzende Menschen schwer verletzt werden?
Das Westdeutsche Gefäßsymposium wird bereits zum vierten Mal in der Oberhausener Stadthalle abgehalten und gilt als eine der wichtigsten Fortbildungsveranstaltungen der deutschen „Gefäß-Szene“. Drei Tage lang informieren sich ab Donnerstag 400 Mediziner im „Congress Centrum Oberhausen“ über ihr Spezialgebiet: Therapievarianten der Aortenversorgung, Strahlenschutz bei Interventionen, Sporttherapien bei Gefäßerkrankungen, Operationstechniken für Becken und Schenkel, den richtigen Zeitpunkt einer Operation, den schwierigen Hals, Möglichkeiten und Grenzen der Gefäßmedizin.
Auch mit der Digitalisierung beschäftigt sich der Kongress der Gefäßgesellschaft West: Welche Rolle kann die Künstliche Intelligenz spielen? Können 3D-Drucker durch die Herstellung passgenauer Elemente helfen?
Ärzte: Ein Fehler sollte möglichst nur einmal gemacht werden
Besonders beliebt ist eine Vortragsveranstaltung, in dem Ärzte unter der Überschrift „Mein schlimmster Fall“ aus dem Ruhrgebiet Tacheles reden. Dabei geht es um ein Tabu-Thema: Fehler von Chirurgen aus der Praxis. „Hier tragen namhafte Gefäßchirurgen aus ihrem Alltag einen komplikationsreichen Fall interaktiv vor – ehrlich und offen – eben typisch Ruhrpott. Nach dem Motto: Ein Fehler sollte möglichst nur einmal gemacht werden. Diese Vorträge sind immer gut besucht“, sagt der bekannte Oberhausener Gefäßchirurg Dr. Siamak Pourhassan, der die Kongresse seiner Zunft seit 2011 mitorganisiert und sie nach Oberhausen geholt hat.
Dem 50-jährige Familienvater ist es auch zu verdanken, dass sich die Fachärzte in diesem Jahr mit einem Szenario beschäftigen, der in ihrer Aus- und in Fortbildungen praktisch keine Rolle spielt: „Massenanfall schwerer Gefäßverletzungen“, beispielsweise nach einem Attentat. „Wir sind auf solche Fälle gar nicht vorbereitet“, gesteht Pourhassan. „Ob im Terrorfall oder Katastrophenfall – neben der menschlichen Tragödie wäre ein solch plötzlicher Anfall schwerer Gefäßverletzungen auch eine medizinische Herausforderung: Wie, wann, was machen?“
Kongress-Präsident Prof. Dr. Achim Mumme, Leiter der Gefäßchirurgie an der Ruhr-Universität Bochum, formuliert vor Ort in Bochum entwaffnend ehrlich: „Wir haben hier eine der größten Gefäßchirurgien des Landes, aber wenn es zu einem Massenanfall von Schuss- oder Explosionsverletzungen käme, wären wir hilflos.“ Man sei nicht ausreichend ausgebildet und habe nicht genug Erfahrung mit solchen Verletzungen. Ein Grund: Mit Schuss- oder Explosionswunden haben die Kliniken hierzulande – zum Glück – nur wenig zu tun.
Bundeswehr berichtet über Erfahrungen in Kriegsgebieten
Deshalb sind – einzigartig – auch medizinische Spezialisten der Bundeswehr zum Kongress eingeladen, die über ihre Erfahrungen in Kriegsgebieten berichten. Dabei reden sie über ihre spezielle Taktik und Technik in der Chirurgie verletzter Gefäße nach Schüssen und Explosionen sowie typische Verletzungsmuster. Der Titel der anderthalbstündigen Vortragsreihe: „Gefäßchirurgie trifft Bundeswehr“.
Medizin-Studenten geschult
Auf dem mittlerweile achten Westdeutschen Gefäßsymposium werden sogar einen ganzen Tag lang, nämlich am Donnerstag, 6. Februar 2020, Medizin-Studenten geschult – in einem „Crashkurs Gefäßmedizin“ durch erfahrene Ärzte. Dabei gibt es eine Einführung in das gefäßchirurgische Instrumentarium und in die Techniken – mit praktischen Übungen.
Das Angebot für Studenten macht die Gefäßgesellschaft West nicht uneigennützig: Sie will so für die faszinierende Welt der Gefäßchirurgie werben. „Auch die Gefäßchirurgen leiden unter einem mangelndem Nachwuchs“, meint Dr. Siamak Pourhassan, der das Symposium nach Oberhausen geholt hat.
Die Armee verfügt nach Darstellung der Kongressleitung über neue medizinische Methoden, etwa Gefäßumleitungen, um mit dem massenhaften Anfall solcher Verletzungen fertig zu werden. Damit können verletzte Beine viel länger als nach alten Abbinde-Techniken stabilisiert werden, so dass die Amputationsgefahr sinkt.
Gefahr von Amputationen
Genau solche Kenntnisse sind bei einer Vielzahl von Verwundeten erforderlich: Heutzutage können Polizisten im Streifenwagen nach Darstellung der Mediziner zwar verletzte Glieder abbinden, um zu verhindern, dass die angeschossene Person verblutet. Doch dabei wird die Durchblutung komplett abgeschnitten – mit üblen Folgen, wenn man nicht schnell handeln kann. „Nach allerhöchstens sechs Stunden ist Schluss: Dann muss man amputieren“, erläuterte Gefäßchirurg Prof. Dr. Krumme dem Informationsdienst Wissenschaft. „Wenn mehrere so erstversorgte Patienten zeitgleich in die Klinik eingeliefert werden, können wir vielleicht nur einem sein Bein retten.“