Oberhausen. Sie besucht die Schule am Freiraum-Theater in Bremen, absolviert Meisterkurse in Stimme, Sprache und Gesang in Luzern, Paris und München, hat die Band „Instant Schizo”. Schauspielerin Karin Kettling war einmal eine junge Wilde. Auch heute ist alles andere als leise geworden.

Es war einmal eine junge Wilde, die hieß Karin Kettling und war noch nicht, wie heute, Schauspielerin am Oberhausener Theater. Ein vagabundierendes Leben hat sie weder leise gemacht noch ihr das Rückgrat gebeugt. Den Blick zuvor in den Kleiderschrank muss der Herbst geschärft haben. Karin Kettling kommt zum Treffen im Revierpark Vonderort so kongenial in die melancholischen Farben dieser Jahreszeit gewandet, dass sie sich wunderbar einfügt in die Natur-Kulisse. Es hätte ebensogut am Rotbach sein können oder am Heidsee, auch am Kanal: die Schauspielerin ist mit der Natur engstens befreundet, an diesem Herbstmittag kommt sie gerade von einem Date mit Raissa. „Nicht die Frau von Gorbatschow”, quittiert sie den fragenden Blick lachend, „Raissa ist eine wunderschöne Stute.”

Wenn es die Zeit erlaubt, sitzt die Karin Kettling im Sattel eines Hünxer Reiterhofes, wenn es der Kontoauszug erlaubt, gönnte sie sich Reitstunden. Im Hünxer Stall „gehen sie sehr gut mit den Pferden um und es ist alles nicht so snobistisch”. Wenn sie spricht, fällt dieses endlos melancholische Timbre auf, man kennt es schon, wenn sie singt, auch gesprochen ist es eine Ohrenweide und man will so recht gar nicht glauben, dass dieser warme Klang zu einer einst jungen Wilden gehört und dass diese Epoche gar nicht so lange der Vergangenheit angehört.

„Endlich ein Mädchen”, sagt die Mutter, als Karin Kettling am 14. April 1964 in Freiburg im Breisgau geboren wird. Drei Jungs sind schon da. Der Vater ist beim Militär, will unbedingt Karriere machen, im Zwei-Jahres-Rhythmus zieht die Familie um, sieben Mal allein in Süddeutschland. Karin sagt sich damals: „Wenn ich groß bin, ziehe ich nie wieder um.” In den Ferien ist sie im Haus der Großeltern, streift mutterseelenallein durch den Wald, sammelt Kräuter, Pilze und Beeren. Der Drang, irgendetwas pflücken zu müssen, er ist ebenso geblieben wie der Griff zu Bio-Lebensmitteln, im Laden an der Annabergstraße oder aus dem eigenen Anbau. Und wenn sie heute von ihrer Eisenheimer Wohnung zur Probenbühne in Buschhausen radelt, locken am Weg Beeren und Holunderblüten.

Schließlich landet Karin Kettling mit der Familie in Hannover, „den Vater hatten wir inzwischen abgehängt”. In der Schule ist sie da schon längst eine Streberin: „Ich habe so auf mehr Aufmerksamkeit gehofft. Aber irgendwann habe ich auch gemerkt, dass ich noch so oft die Nummer 1 sein kann, zuhause interessiert sich sowieso keiner.” Immer häufiger schwänzt sie die Schule, kann schwache schriftliche Leistungen aber mündlich ausgleichen. Es fällt ihr leicht zu sprechen, auch Fremdsprachen: „Die beherrschte ich gar nicht so toll, aber es klang immer gut.” Natürlich spielt sie ein Instrument, das gehört im Bildungsbürgerhaushalt dazu. Karin Kettling lernt erst Geige, später Klavier. Die Brüder haben im Keller einen Probenraum und eine Punkband, sie ist dabei, singt aber auch im Oratorium mit: „Das hat riesigen Spaß gemacht.” Alle nehmen es wie eine Befreiung auf, als der Vater weg ist. Sie malen Autos bunt an, „bei uns war es ein wenig wie Woodstock”. Die Brüder haben lange Haare, auch die Schwester mag sich nicht anpassen an die Norm. Karin Kettling macht im Widerstand gegen Atomkraftwerke mit, aber es sind nicht nur Aktionen gegen etwas, man untersucht auch neue Gesellschaftsformen, es ist eine Art Spaßguerilla. Irgendwas mit Philosophie, Politologie und Soziologie will sie vielleicht machen, „aber nicht an der Uni. Die haben ja nur gelabert. Die hatten ein Seminar zur Kultur des Todes, aber niemand von denen war je auf einer Intensivstation.”

Immerhin macht Karin Kettling „für alle Fälle” ihr Abitur, ihr Numerus Clausus ist jenseits von Gut und Böse, Schauspielerin wäre was, aber an der Schauspielschule haben die Lehrer einen richtigen Stundenplan, und genau das will die junge Abiturientin nicht: „Ich wollte erst einmal Wind um die Nase haben.” Der wird wehen.

In Göttingen "Schauspielerin des Jahres"

Denn das Leben ist wild: Karin Kettling macht mit dem Akkordeon Straßenmusik in Südfrankreich, Straßentheater, findet Männerrollen viel schöner, schneidet sich die Haare zur Glatze runter und merkt bald, dass es da Sachen gibt, die sie nicht kann: „Ich musste lernen, Lust auf Unterricht zu bekommen.” Schauspielschule, bei den Aufnahmeprüfungen ist sie zu schräg, „man dachte wohl, die kriegen wir in vier Jahren niemals auf die Spur”. Aber es gibt auch Stimmen, die sagen: „Das schaffst du.”

Sie besucht die Schule am Freiraum-Theater in Bremen, absolviert Meisterkurse in Stimme, Sprache und Gesang in Luzern, Paris und München, hat die Band „Instant Schizo”. Eigentlich glaubt sie, mit ihrer 1. Sopranstimme Sängerin zu werden, sie landet 1989 am Jungen Theater Göttingen, Otto Schnelling leitet es, wird ihr Mentor: „Er hat geglaubt, einen schrägen Vogel könne er sich leisten.” Vier Jahre spielt und singt sie alles rauf und runter, dann ist sie fertig, will an ein größeres Haus, jetzt, wo man sie in Göttingen zur Schauspielerin des Jahres gewählt hat.

Sie wechselt zu Ulrich Khuon ans Staatstheater Hannover, ein gutes, aber nicht ihr Haus. Karin Kettling will in einem Ensemble auch an Inhalten arbeiten, „da galt ich nicht als zeitgemäß”. Sie macht ein paar Kabarett-, ein paar Liederabende, und legt eine Babypause ein. Über Stationen wie u.a. das WLT Castrop-Rauxel kommt sie 2003 nach Oberhausen. Johannes Lepper übernimmt gerade als Intendant das Theater, den kennt sie von Göttingen, mag seine auch inhaltlich radikale Art, an das Theater heranzugehen, sehr. „Wenn ihr nichts zu sagen habt, geht nicht auf die Bühne.” Ein Satz, der die Schauspielerin, die als „absoluter Familienmensch” mit Partner, einem Landschaftsarchitekten, und Tochter in Eisenheim lebt und eine brillante Angie macht, die die Herzlichkeit der Menschen liebt hier und die optische Tristesse bedauert, bis heute beeindruckt. Wen wundert's, dass sie die Penthesilea gern gespielt hätte.

In der nächsten Folge stellen wir Jürgen Sarkiss vor.