Oberhausen. . Weltweit gibt es immer mehr Kriegs- und Krisengebiete. Friedensdorf-Leiter Thomas Jacobs nimmt den Westen in die Verantwortung.

Weltweit gibt es mehr Kriegs- und Krisengebieten denn je. In Oberhausen hat mit dem Friedensdorf eine Kinderhilfsorganisation ihren Sitz, die mit den Folgen dieser Entwicklung unmittelbar konfrontiert ist. Die Einrichtung ist in mehr als zehn Krisengebieten aktiv, und die Zahl der Anfragen steigt. Wie schätzt Friedensdorf-Leiter Thomas Jacobs diese Situation und die Folgen für die Oberhausener Hilfseinrichtung ein?

Es gab noch nie so viele Krisenherde wie heute. Macht Ihnen das Sorgen?

Thomas Jacobs: Ja. Als vor einigen Jahren der „Kalte Krieg“ zwischen den Großmächten zu Ende war, haben viele gehofft, dass sich die Welt befriedet. Heute wissen wir, das Gegenteil ist der Fall. Die Konflikte werden immer zahlreicher.

Wo sehen Sie Gründe dafür?

Jacobs: Wir im Westen sind mitverantwortlich, weil wir glauben, anderen Kulturkreisen unsere Vorstellung von Demokratie und unsere Strukturen überstülpen zu können. Meine Mitarbeiter und ich sehen das heute immer in Afghanistan. Die Menschen dort haben ein ganz anderes Verständnis davon, wie sie leben wollen. Ich halte es für falsch, ihnen unsere Strukturen aufzuzwingen. Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden. Der Westen kann sicher mit flankierenden Maßnahmen helfen, zum Beispiel beim Aufbau von Infrastruktur.

Auch haben wir einige Entwicklungen falsch eingeschätzt. Beispiel Tunesien: Was anfangs wie eine fortschrittliche Revolution aussah, entpuppt sich jetzt als unkalkulierbares Risiko.

Und dann sind da noch die militärischen Interventionen des Westens. Auch hier zeigt Afghanistan, dass dadurch keine Befriedung entstand, sondern Gewalt und Armut. Den Menschen hilft das nicht.

Sehen Sie Lösungsansätze für eine friedlichere Entwicklung?

Jacobs: Es wird Zeit, endlich innezuhalten und zu reflektieren, was wir da eigentlich tun. Wir brauchen neue Wege und zwar gemeinsam mit den betreffenden Ländern – und auf Augenhöhe.

Ich bin sicher, hätte man in Afghanistan nur einen Teil der jetzt für Militäreinsätze verpulverten Gelder in zivile Projekte gesteckt, von denen die Menschen wirklich profitiert hätten, wäre es in diesem Land wesentlich friedlicher.

Sehen Sie Beispiele für ein solches Umdenken?

Jacobs: Ein grundsätzliches Umdenken kann ich nicht erkennen. Ich sehe aber kleine Ansätze einzelner Politiker, die früher Militäreinsätze befürwortet haben und heute auch öffentlich an deren Sinn zweifeln. Davon brauchen wir mehr. Mir ist es ein Rätsel, warum die Menschen aus den Fehlern der vergangenen Jahre und Jahrhunderte nichts lernen.

Sie kennen den Einwand von Kritikern, dass die Arbeit einer verhältnismäßig kleinen Hilfseinrichtung wie sie das Friedensdorf ist, kaum ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann.

Jacobs: Den kenne ich, sehe das aber ganz anders. Immerhin erreichen wir einige hundert Kinder in jedem Jahr mit unserer medizinischen Hilfe, hinzu kommen die vielen hundert, denen in unseren Projekten geholfen werden kann. Und dann höhlt steter Tropfen ja auch den Stein. Denn jedes unserer Kinder, die hier im Friedensdorf eine Weile gelebt haben, haben etwas erfahren, was unendlich viel wert ist: echte Völkerverständigung.

Wenn Afghanen Portugiesisch lernen, Angolaner versuchen, Dari zu reden und mit den Kindern aus dem Gazastreifen auf Deutsch palavern, dann vergessen sie das nie mehr. Und das tragen sie auch in ihre Familien.

Wenn es gelingt, davon ein wenig ins Erwachsenenalter zu retten, ist viel gewonnen. Diese jungen Erwachsenen werden dann vielleicht kritischer und nachdenklicher – und geben Anlass zu neuer Hoffnung.

Sie haben viele Kriegs- und Krisengebiete gesehen. Was bedeutet Krieg konkret für die Menschen?

Jacobs: Wird in einem Kriegsland ein Kind verletzt, hat das Konsequenzen für die ganze Familie. Das Kind und mindestens ein Familienmitglied, das sich um dieses Kind kümmern muss, kann nichts mehr zum Unterhalt der Familie beitragen. Meist bedeutet es auch ein finanzielles Desaster. In diesen Ländern muss vom Arzt über Verbandszeug und Medikamente bis hin zum Essen alles selbst bezahlt werden. Da hilft oft nur, dass es Großfamilien sind, die als echte Solidargemeinschaften funktionieren. Für mich sind diese Menschen Lebens- und Überlebenskünstler.

Einzelfallhilfe war und ist ein Standbein der Friedensdorf-Arbeit. Welchen Stellenwert hat sie und wird sie künftig haben?

Jacobs: Sie wird zurzeit dringender gebraucht denn je. Die Zahl der Anfragen steigt, zum Beispiel aus Palästina, Zentralasien, einigen afrikanischen Ländern und Syrien. Dort aber fehlt jede Infrastruktur, es gibt keine Partnerorganisationen. Wir könnten nur von türkischen Flüchtlingslagern aus arbeiten, wären dann aber nicht sicher, dass die Eltern noch da sind, wenn wir ihre Kinder nach der Behandlung zurückbrächten. Und das ist für uns eine nicht diskutierbare Voraussetzung: Kinder gehören in ihre Familien.

Erstmals haben wir 2014 Kinder aus Gaza aufgenommen. Künftig hoffen wir, die Einzelfallhilfen reduzieren zu können, da wir viel Spendengelder in Projekte vor Ort stecken. In Vietnam sind wir inzwischen nicht mehr tätig, die Projekte laufen super.

Auch in Deutschland hat sich das Gesundheitswesen verändert. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Es erschwert sie erheblich. Die Verweildauer der Kinder in den Krankenhäusern ist immer kürzer geworden. Das bedeutet aber auch, dass wir in unserer Heimeinrichtung ein deutlich höheres Maß an Nachsorge übernehmen müssen. Wir brauchen dafür mehr Personal. Umso wichtiger ist es, die Projektarbeit in den Krisengebieten voran zu treiben.