Oberhausen. Doris Kreienberg vom Jugendamt und ein Psychologe glauben, die Frauen werden ungewollt schwanger und beginnen, die Schwangerschaft zu verdrängen.

Warum wirft eine junge Mutter ihren neugeborenen Säugling aus dem Fenster einer Wohnung? Warum tötet die Mutter eines vierjährigen Jungen ihren Zweitgeborenen? Warum packt eine Frau ihr Baby in eine Gefriertruhe? Warum versteckt eine andere ihre getöteten Kinder in Blumentöpfen? Warum müssen Großeltern plötzlich zu Eltern einer Kindsmörderin werden? Warum wird die beste Freundin einer Frau unweigerlich zur besten Freundin der Mörderin?

Toter Säugling lag im Hinterhof

Als im vergangenen Monat eine 26-jährige Oberhausenerin ihren neugeborenen Sohn tötete und das Kind später von Mitarbeitern einer Pizzeria auf einem Hinterhof an der Mülheimer Straße gefunden wurde, waren die Oberhausener fassungslos. Das Ausmaß einer solchen Katastrophe, die über die Frau selbst, deren gesamte Familie und ihren Freundeskreis hereinbricht, deuten Doris Kreienberg (59), Kinderschutzfachkraft, und Psychologe Moritz K.* (36) an.

Für Doris Kreienberg war dieser Neonatizid der erste in Oberhausen in den knapp 30 Jahren, die sie beim Jugendamt arbeitet. Neonatizid, das bedeutet, ein Kind wird innerhalb der ersten 24 Stunden nach seiner Geburt von der Mutter getötet. In Deutschland gibt es pro Jahr 20 bis 35 Kinder, die dieses Schicksal ereilt.„Aber das sind nur die Kinder, die gefunden werden“, vermutet Doris Kreienberg eine Dunkelziffer. Auch einige Fälle von plötzlichem Kindstod könnten Tötungsdelikte sein.

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Zum Neonatizid gibt es so gut wie keine Studien, weil er zum Glück ein seltenes Phänomen ist, es eben nur wenige Fälle gibt.

Doris Kreienberg und Moritz K. versuchen dennoch eine Annäherung an das Thema mit Hilfe des wenigen, vorliegenden wissenschaftlichen Materials. Sie beziehen sich in ihren Ausführungen zum Thema Neonatizid besonders auf eine Expertise von Prof. Dr. Theresia Höynck und anderen.

Frauen machen sogar Diäten

Eine Frau wird also ungewollt schwanger. „Alle Kinder, die kurz nach der Geburt getötet wurden, waren nicht gewollt“, zitiert Kreienberg die Expertise. Die Frauen beginnen, die Schwangerschaft zu verdrängen. „Das ist keine bewusste Entscheidung, das ist ein fließender Prozess“, sagt Moritz K. Wenn dann Verwandte, Kollegen oder Freunde doch mal was bemerken und nachfragen, streitet die Frau eine Schwangerschaft ab. „Das ist kein Anlügen, die Frau glaubt wirklich, nicht schwanger zu sein“, sagt der Psychologe.

„Die Frauen behalten ihre Lebensgewohnheiten bei, rauchen und trinken, und häufig machen sie wegen der Gewichtszunahme Diäten“, sagt Doris Kreienberg. Deshalb wächst der Fötus oft nicht so richtig. Die Frauen bleiben womöglich relativ schlank. „Manche bekommen auch noch ihre Periode“, sagt Doris Kreienberg. Bewegungen des Kindes würden als Darmprobleme abgetan.

Hilfsangebote für Frauen in Oberhausen

Die Verheimlichung der Schwangerschaft, die in die komplette Verdrängung mündet, ist das verbindende Element bei Tötungen von Neugeborenen. Die Frauen werden von der Geburt überrascht. „Das kann zu Kurzschlusshandlungen führen“, sagt Moritz K. Die Frauen seien zur Tatzeit nicht in der Lage, adäquate Lösungsmöglichkeiten zu finden.

Es gebe auch in Oberhausen unzählige Hilfsangebote für Mütter für die Zeit vor und nach der Geburt. „Aber die in Anspruch zu nehmen, setzt die Akzeptanz einer Schwangerschaft voraus und wenn die verdrängt wird, wie soll man die Frauen erreichen?“, fragt Moritz K.

Da bekommt also plötzlich eine Frau ihr Kind. Die Mutter, die die Schwangerschaft verdrängte, konnte keine Bindung zu dem kleinen Wesen aufbauen. „Für sie ist das Baby ein fremder Mensch“, erklärt Moritz K. Die Tötung sei eine spontane Handlung. Über die Folgen mache sich die Mutter kaum Gedanken.

Und warum landet so ein Baby dann ausgerechnet auf einem Hinterhof? „Aus den Augen, aus dem Sinn“, sagt Doris Kreienberg. Wobei die betroffenen Frauen später, auch noch nach vielen Jahren, wenn ihnen wieder bewusst würde, was sie getan haben, tiefe Schuldgefühle entwickeln könnten.

Kindstötung - Ein Thema aus der Mitte der Gesellschaft 

Neonatizid, die Tötung von Kindern kurz nach der Geburt, ist ein Thema aus der Mitte der Gesellschaft, so das Ergebnis der Expertise von Theresia Höynck. „Die Frauen seien meist weder früher selbst misshandelt worden, noch spielten Drogen, Alkohol oder psychische Störungen in den überwiegenden Fällen eine signifikante Rolle.Über die Hälfte der Frauen verfügten über einen mittleren bis höheren Schulabschluss.

Der Anteil nichtdeutscher Frauen sei unauffällig. Es würden auch nicht mehr Mädchen als Jungen getötet, was vor dem Hintergrund, dass in manchen Kulturen Jungen willkommener sind, eine Rolle hätte spielen können. Unter den betroffenen Frauen seien gute Mütter früherer Kinder darunter.

Das Fazit Doris Kreienbergs: „Die Kindstötung bleibt für uns unvorstellbar. Unterm Strich wird es sie trotz aller Hilfsangebote immer wieder geben. Wir werden dem immer wieder fassungslos gegenüberstehen.“

Bundesweites Hilfstelefon für Schwangere in Not

Für Schwangere in Not gibt es ein bundesweites Hilfstelefon unter 0800/40 200 20. Frauen, die ihre Schwangerschaft verheimlichen wollen, werden in ihrer schwierigen Lage von dort bestmöglichst unterstützt. Die Frauen können über diese Rufnummer erste Hilfen völlig anonym in Anspruch nehmen. Professionelle Beraterinnen stehen ihnen zur Seite.

Außerdem informiert das Internet-Portal www.geburt-vertraulich.de über die vertrauliche Geburt, bietet zum Beispiel auch die Adressen von Schwangerschaftsberatungsstellen.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.