Mülheim. . Gestatten, Vogelsang, Jan Vogelsang, 18 Jahre alt. Der Schüler hat gute Chancen, bald für die SPD im Mülheimer Stadtrat zu sitzen. Der Hannelore-Kraft-Wahlkampf 2010 hat ihn politisiert. Doch Jan Vogelsang will nicht die Welt verbessern. Für ihn ist Politik: das Management der Mehrheitsfindung.

Der WDR hat schon in seiner Schule gefilmt und die Bild-Zeitung will auch ein Porträt über ihn veröffentlichen: Die Öffentlichkeit ist neugierig auf Jan Vogelsang. Erst am 4. April ist er 18 Jahre alt geworden und bei den Kommunalwahlen tritt er schon für die Mülheimer SPD in Holthausen-Süd für den Rat an. Er ist damit der jüngste Kandidat im ganzen Land.

Und wenn es um junge Leute in der Politik geht, dann drängt sich fast schon automatisch immer die gleiche Frage auf, nämlich die nach der Zukunft der Demokratie. Aus der kulturpessimistischen Perspektive heißt es dann: Warum sind nicht alle jungen Leute so engagiert wie er? Und in der optimistischen Variante: Die Jugendlichen sind eben doch viel besser als ihr Ruf. Aber egal für welches Klischee man sich auch entscheiden mag, es bleibt eben ein Klischee.

Gereiftes Politikverständnis

Wenn man aber mit Jan Vogelsang eine Weile gesprochen hat, über seine Motivation, seine Ziele, seine Ideale - dann wird schnell klar: Dass er erst 18 ist, ist eine Tatsache, die in seinem Pass steht, aber sie sagt fast nichts über sein Politikverständnis aus. Denn das ist weder jung noch alt, sondern in erster Linie pragmatisch. Als sein politisches Vorbild nennt er weder Mahatma Gandhi noch Martin Luther King, Vogelsang nimmt auch keine Anleihe in der Parteigeschichte - kein August Bebel, kein Willy Brandt und auf einen revolutionären Gestus, der bei den Jusos Tradition war, legt er auch keinen Wert: Vogelsang trägt kein Che Guevara-T-Shirt.

Statt dessen sagt der 18-Jährige ganz freimütig: „Ja, Dieter Wiechering ist tatsächlich für mich eine Art politisches Vorbild.“ Und er erklärt auch genau, was er an dem 70-Jährigen schätzt, der seit zwei Jahrzehnten die SPD-Fraktion im Mülheimer Stadtrat führt: „Er hat den Überblick und die nötige Routine. Politik hat auch eine handwerkliche Seite.“ Wie findet man im Rat eine Mehrheit? Eine Frage, die auch jetzt schon Probleme verursacht hat, aber deren Lösung in der kommenden Wahlperiode noch schwerer fallen wird: „Es werden noch mehr Parteien im Rat sitzen als bisher. Und dann droht eine Zersplitterung.“ Und dann seien eben Fähigkeiten gefragt, trotzdem Mehrheiten zusammen zu schmieden. Und wie das im Polit-Handwerk geht, will Lehrling Vogelsang von Meister Wiechering gerne beigebracht bekommen.

Programmieren als Entspannung

Dabei wird das so viel gar nicht mehr sein. Denn Vogelsang ist ein Mensch mit Sinn für Strukturen. Das kommt von seinem Hobby: programmieren. „Wenn ich vor dem Computer sitze und programmiere, dann ist das für mich Entspannung. Das ist, als fahre ich in einen Tunnel. Das ist der Punkt, wo ich wirklich zu mir selbst komme.“ Und diszipliniert ist er auch: „Ich denke, 20 Stunden pro Woche für die Politik sind realistisch. Das ist zu schaffen. Und als Ausgleich nehme ich mir vor, morgens vor der Schule noch zu joggen.“ In zwei Jahren will er am Wirtschaftsgymnasium an der Lehnerstraße Abitur machen.

Strukturiertes Arbeiten und Konzentration wirken jedenfalls auf Jan Vogelsang offenbar entspannend. Er wird Verwaltungsvorlagen lieben. „Ich mag klare Strukturen, wirklich. Auch mein Zimmer ist so eingerichtet. Auf den ersten Blick mag das vielleicht etwas streberhaft wirken“, sagt Vogelsang lächelnd. Aber er ist nun einmal so. Und für die Kommunalpolitik könnte sich diese Neigung tatsächlich als Talent entpuppen. Allerdings, mit seiner Jugend hat das nichts zu tun.

Unternehmen statt beobachten

Bei der zweiten Eigenschaft, die er mitbringt, ist es vielleicht schon eher so. Aber der Reihe nach. „Ich will etwas unternehmen. Ich bin niemand, der gerne nur zuschaut. Ich will selbst gestalten.“ Das hat er schon weit weg von Mülheim bewiesen. Als er in Texas ein Austauschjahr verbracht hat, gründete er kurzerhand eine eigene Firma. Und die Programme, die er am Computer entwickelt, sind auch nicht irgendwelche - es geht um die Analyse der Angebote von Finanzdienstleistern. Sicher kein klassisches Juso-Hobby - wie ist Vogelsang ausgerechnet bei den Sozialdemokraten gelandet? „Ich habe mich schon immer für Politik interessiert. Nach Sendungen zu solchen Themen im Fernsehen, habe ich immer mit meinen Eltern darüber diskutiert. Und weil ich eben nicht der Typ bin, der nur beobachtet, habe ich dann beschlossen, selbst aktiv zu werden.“

Als er dann bei der SPD vorbeischaute, war die gerade im Wahlkampf für Hannelore Kraft. „Wir haben ganz viele Hausbesuche gemacht. Diesen direkten Kontakt fand ich sehr interessant. Natürlich schlagen einem manche auch die Tür vor der Nase zu. Aber viele sind interessiert. Ich bin immer wieder überrascht, was man dann alles aus dem Leben der Menschen erfährt. Das ist fast schon ein bisschen wie Seelsorge.“ Genau das hat dem unternehmungslustigen, damals noch 14-Jährigen gefallen.

Direkter Kontakt mit den Wählern

Und für seinen Wahlkampf hat er daraus Konsequenzen gezogen: „Ich will wieder viele Hausbesuche machen. Mein Ziel ist: Ich will den Wahlkreis direkt gewinnen. Mindestens aber 25 Prozent holen.“ Holthausen-Süd ist eine CDU-Hochburg, bei der letzten Wahl bekam die SPD nur 19 Prozent. Jetzt könnte man natürlich sagen: Keine große Sache, dass die Partei den 18-Jährigen hier antreten lässt. Eine Spielwiese, bei der es was zu gewinnen, aber letztlich nichts zu verlieren gibt. Aber Vogelsang ist eben nicht der Typ für eine Symbolkandidatur. So hat er sich denn auch ein Thema ausgedacht, mit dem er punkten will: „Ich möchte mich für ein Mehrgenerationen-Haus dort stark machen. Wenn das klappt, dann wäre ich sehr zufrieden.“ Dass so ein Projekt nicht von heute auf morgen geschultert ist, das sei ihm klar. Auch hier ist der 18-Jährige kein Heißsporn.

Vielleicht meint es auch deswegen die Partei wirklich ernst mit ihm. Vogelsang steht auf Platz fünf der Liste. Es bedeutet, auch wenn er kein Direktmandat bekommt, hat er gute Chancen in den Rat einzuziehen. „Spätestens als Nachrücker.“

Bekenntnis zur Stadt

Also, eine kurze Zwischenbilanz: Jan Vogelsang ist analytisch, hat ein Händchen für Bürgergespräche, er ist ein politisches Talent. Mit seinem Alter haben diese Fähigkeiten alle aber nichts zu tun, er hat sie eben.

Doch in einer Frage, da schaut er allein schon durch sein Alter anders auf ein Thema, das seit Jahren die Stadt umtreibt: die Zukunft der Mülheimer City. „Ich kann mich an keinen Zeitpunkt erinnern, in der die Innenstadt anders gewesen wäre als jetzt.“ Ein erster Schritt weg von der Trauer um vergangene, nicht wiederholbare Jahre, die noch so viele in der Kommunalpolitik bestimmt.

Gleichzeitig sagt Jan Vogelsang aber noch etwas anderes: „Ich kenne ganz viele junge Leute, die weiter in Mülheim leben wollen. Für eine Zeit gehen sie vielleicht mal ins Ausland. Aber grundsätzlich wollen sie hier wohnen.“ Zu diesen Leute gehört er auch selbst: „Wenn ich im Rat sitze, will ich in der Region studieren, wahrscheinlich an der Fachhochschule.“ Vielleicht trägt er in der Politik dazu bei, dass es seinen Gleichaltrigen auch weiterhin leicht fällt, sich zu ihrer Stadt zu bekennen. Wäre nicht schlecht - weniger für die Zukunft der Demokratie, aber für die Zukunft Mülheims.