Mülheim. .
Und plötzlich sind sie da. Bedrohlich. Wie halbwüchsige Wilde stürmen sie hervor hinter kunterbunten Holzwürfeln, die an Kinderspielkisten erinnern, und später als Särge dienen werden. Junge Menschen mit weiß verhüllten Gesichtern, ohne Identität. Aber mit Wünschen und Trieben, die ausbrechen wollen – und daran scheitern. Das junge Theater an der Ruhr inszeniert „Frühlings Erwachen“ als Traum voller implodierender Sehnsüchte.
Leise Töne, schreckliche Ängste
Dabei hätte es viele Möglichkeiten gegeben, Wedekinds Stück aus dem beginnenden 20. Jahrhundert ins Jetzt zu übertragen: Als eskalierende Prom-Night oder laute Party à la „Hangover“. Schließlich erscheint die erstickend spießbürgerliche Sexualmoral, die der deutsche Dramatiker ausbreitet und kritisiert, angesichts permanent zugänglicher Pornoberieselung im Internet und offenbar schmerzfreiem Dauertalk im TV völlig überholt.
Doch ganz so ist es eben nicht. Das junge Theater besinnt sich folgerichtig auf die leisen, zeitlosen Töne des Stücks, die immer noch – dennoch – existierenden Ängste und Sehnsüchte von Heranwachsenden.
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Da ist die neugierige Wendla („Es muss doch tausendmal erhebender sein von einem Mann geliebt zu werden als von einem Mädchen“), die zwar ihre Unschuld an Melchior verliert, aber das tragische Opfer der verklemmten Sexualität ihrer Mutter wird. Da ist der selbstbewusste Freigeist Melchior („Es gibt keine Liebe, alles Eigennutz, alles Egoismus“), der aber am Tod von Wendla und seines Freundes Moritz zerbricht. Da ist der angeblich dumme aber hochsensible Moritz, der nicht zu sich finden kann: „Ich sehe, ich höre, ich fühle – doch alles ist so traumhaft.“
Immer noch aktuelle Themen
Die acht jungen Schauspieler am Theater an der Ruhr spüren aus Wedekinds komplexem Werk zielsicher Themen auf, die ihre Aktualität nicht eingebüßt haben. Inszeniert werden diese mit sparsamen, aber wohl durchdachten Mitteln, die das Traumhafte, das Psychologische betonen: Spärliches, konzentriertes Licht, Masken, wandelbare Kisten, die mal als angedeuteter Raum, mal als Podium und mal als Särge dienen.
Die Leitung für „Frühlings Erwachen“ hatte der Theaterpädagoge Bernhard Deutsch. Doch der spielt den Ball zurück und betont: „Die Jugendlichen haben ihren eigenen Zugang entwickelt.“ Vier Monate lang, drei Mal die Woche trafen sie sich um zu proben, um Theater zu sehen, und sogar um zu lesen. „Darauf bestehe ich“, sagt Leiter Deutsch, „ohne die intensive Auseinandersetzung geht es nicht.“