Mülheim. Zurzeit sorgt der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff mit seinem neuen Buch über eine Nation in der sozialen Schieflage für Aufsehen. Am Donnerstag liest er im Mülheimer Ringlokschuppen aus „Aus der schönen neuen Welt”. Margitta Ulbricht sprach mit ihm über Arbeit, An- und Einsichten.
In einer Brotfabrik verbrannte sich Günter Wallraff die Finger. Und auch politisch legt er gerade mal wieder den Finger in die Wunde. Über 25 Jahre nach „Ganz unten” und etliche Undercover-Einsätze später, sorgt der Enthüllungsjournalist in seinem neuen Buch über eine Nation in der sozialen Schieflage für Aufsehen. „Aus der schönen neuen Welt” berichtet Wallraff am Donnerstag im Ringlokschuppen.
Sie sind derzeit ein gefragter Mann in den Medien.
Günter Wallraff: Ja, das ist verrückt, damit habe ich in dem Ausmaß nicht gerechnet. Das Positive ist, dass es eine kontroverse Diskussion ist. Da finden Auseinandersetzungen und Lernprozesse statt und Vorurteile können so eher überwunden werden.
Apropos kontrovers: Ihre Undercover-Recherche als Afrikaner verkleidet stößt teils auf Ablehnung.
Wallraff: Über Zustimmung vor allem nach den Diskussionen mit dem Kinopublikum kann ich mich nicht beklagen. Die Ablehnung erfahre ich von einzelnen Kritikern, die nicht wahrhaben wollen, dass es einen durchwachsenen Rassismus in unserer Gesellschaft nach wie vor gibt und das nicht nur im Osten. Einzelne Sprecher von Schwarzen-Organisationen vermissen, dass ich nicht sie selbst und ihr eigenes Anliegen habe zu Wort kommen lassen. Hier finden zur Zeit Gespräche statt und es ist geplant, in einem neuen Filmbeitrag das zu berücksichtigen. Ansonsten bin ich erst mal der Türöffner, der eine überfällige Debatte ausgelöst hat.
Haben Sie Erfolge zu verzeichnen?
Wallraff: Absolut. Angefangen bei „Ganz unten”, da waren das türkische Arbeiter, wo das Klima tatsächlich immer wieder verbessert wurde, bis zu den Bedingungen vor Ort. Thyssen hat damals die Subfirmen und Menschenhändler vom Werksgelände verbannt. Es gab plötzlich Staubmasken und Sicherheitsmaßnahmen.
Dasselbe passiert jetzt wieder in der Brotfabrik im Hunsrück, die ausschließlich für Lidl produziert. Da habe ich als Niedriglöhner gearbeitet. Durch den Druck den Öffentlichkeit kam es zu 24 Prozent Lohnerhöhung, ein Betriebsrat hat sich gebildet und die Kamera-Überwachung wurde abgeschafft. Allerdings ist einiges auch wieder rückläufig, nachdem das Interesse der Öffentlichkeit nachlässt. Vorige Woche lief noch die Meldung, dass der Firmeninhaber einen Strafbefehl wegen Körperverletzung bekommen hat. Wir hatten alle Verbrennungen, weil die marode Anlage ständig blockierte.
Sehen Sie die soziale Marktwirtschaft gescheitert?
Wallraff: Darum auch der Untertitel „Expeditionen ins Landesinnere”: Es gibt immer mehr Verunsicherung und sozialen Absturz auch in der Mitte der Gesellschaft. Es betrifft nicht mehr nur die sogenannte Unterschicht. Es geht wirklich ans Eingemachte. Zu mir kommen auch leitende Angestellte, die rausgemobbt werden.
Könnten Sie sich im Moment eine politische Initiative oder Partei vorstellen, die die Missstände beheben könnte?
Wallraff: Ich selbst bin ja Wechselwähler. Früher habe ich dem linken Flügel der SPD Sympathien entgegen gebracht, aber den gibt's ja nicht mehr, den hat die Parteispitze amputiert. Ich habe schon vor einem Jahr gesagt, dass die Partei kurz vor dem inhaltlichen Konkurs steht, weil sie ihre sozialen Wurzeln gekappt hat. Die SPD hat ihre eigentliche Wählerschaft längst verraten. Und wenn da nicht eine Grunderneuerung passiert, sehe ich die Demokratie insgesamt geschwächt.
Sehen Sie einen Weg aus der Krise?
Wallraff: Wenn wir schon bei Politikern sind: So ein Mann wie Frank-Walter Steinmeier, der eigentlich ein Produkt von Gerhard Schröder ist, und dessen verhängnisvollen Sozialabbau mitzuverantworten und die ganze Hartz IV-Sache verbrochen hat. Dass der sich immer noch behauptet – ich kenne ja einige hochrangige Parteimitglieder – und den anderen seinen bürokratisch verpackten wirtschaftsliberalen Kurs aufdrängt, ist eine Katastrophe. Es gibt ja auch andere Positionen. Da finde ich Hannelore Kraft glaubwürdig mit ihrem sozialen Programm. Da wünscht man sich, dass solch eine Frau in der Partei mehr an Gewicht gewinnt.
SPD-Landeschefin Hannelore Kraft (als stellvertretende Bundesvorsitzende nominiert) ist Mülheimerin.
Wallraff: Ach ja?
Sind die Arbeitnehmer Ihrer Meinung nach überhaupt noch zu retten?
Das liegt natürlich auch an der Resignation. Viele Menschen sind einfach nur noch geschafft: Angst um den Arbeitsplatz, auslaufende Arbeitsbedingungen, der Krankenstand war noch nie so niedrig, weil sich viele trotz Krankheit zur Arbeit schleppen, obwohl die psychischen Krankenheiten enorm zunehmen.
Es ist doch so, dass die Gewerkschaftsbewegung, die mal eine gestaltende Kraft war, inzwischen mit dem Rücken zur Wand steht, Schlimmeres gerade noch verhindert. Ich habe den Eindruck, dass eine parteiübergreifende, soziale Bewegung überfällig ist. Es gibt ja viele junge Menschen, die meine Veranstaltungen besuchen, und da habe ich inzwischen den Eindruck, dass da wieder etwas in Gang kommt.