Mülheim. Psychiatrische Störungen wie Demenz spielen eine wachsende Rolle in den Altenheimen. Angehörige sollten wissen: Schwere Fälle werden abgelehnt.

In Mülheim gibt es 19 Altenheime. 90 Prozent der Bewohner zeigen gerontopsychiatrische Veränderungen, die meisten davon Demenz und Depressionen. Wie herausfordernd es ist, Menschen zu versorgen, die mit zunehmendem Alter verwirrt, manchmal auch aggressiv werden oder die Orientierung verlieren, weiß jeder Angehörige eines Demenzkranken aus persönlicher, oft schmerzhafter Erfahrung.

Doch wie gut sind die Mülheimer Einrichtungen für die Versorgung schwer beeinträchtigter Menschen aufgestellt? Und wie ergeht es Angehörigen, die einen Heimplatz für einen Menschen, etwa mit stark fortgeschrittener Demenz suchen? Außergewöhnlich klare Antworten darauf liefert jetzt ein Bericht des Fachbereichs Sozialplanung der Stadt Mülheim über die gerontopsychiatrische Versorgung vor Ort. Dafür wurden 13 Fach- und Führungskräfte in anonymisierten Interviews befragt. Die traurige Erkenntnis: Für Menschen mit starken psychischen Störungen gibt es kaum Plätze in den Pflegeheimen.

Psychische Störungen im Alter – was heißt das überhaupt?

Gemeint sind gerontopsychiatrische Krankheitsbilder wie Demenz, Depression, Angst- und Schlafstörungen, Suchterkrankungen und Psychosen. Die gute Nachricht: Die psychiatrische Versorgung in den Heimen ist gesichert. Vier niedergelassene Psychiater sind dort im Einsatz.

Die schlechte Nachricht: Über die psychiatrische Versorgung der zu Hause gepflegten Menschen gibt es keinen Überblick. Hinzu kommt, dass auch in den Heimen Therapien selten bis gar nicht stattfinden.

Wer bekommt einen Heimplatz und wer nicht?

Können Menschen auch mit starker gerontopsychiatrischer Veränderung in Senioren-Wohngruppen betreut werden? Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Während eine Heimleitung schildert, dass dies im Rahmen der klassischen Altenpflege nicht möglich ist, heißt es aus einer anderen Einrichtung, dass einzelne schwer betroffene Menschen sehr wohl adäquat in durchmischten Wohngruppen betreut werden könnten.

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Aus einer anderen Einrichtung heißt es, dass man vor der vollstationären Aufnahme eine Kurzzeitpflege quasi als „Probezeit“ vorschaltet. Es bedürfe umfassender Aktivierungs- und Betreuungsangebote, Physio- und Psychotherapie, über die herkömmliche stationäre Einrichtungen nicht verfügten. Die Einrichtungen kämen auch in juristische Konflikte, da sie beispielsweise Menschen mit sogenannten Hinlauftendenzen grundsätzlich nicht festhalten dürften, „es sei denn bei akuter Selbstgefährdung, um sie etwa vor dem Betreten einer befahrenen Straße zu bewahren“, erklärte die Heimleitung gegenüber den Interviewern.

Wer kümmert sich um alte Menschen mit schweren psychiatrischen Problemen?

Wenn sich Pflegeheime nicht mehr zu helfen wissen, kommt es häufig zu einer Einweisung ins Krankenhaus, wobei umgekehrt die Krankenhäuser Schwierigkeiten haben, Heimplätze für schwer Betroffene zu finden. In besonders schweren Fällen bleiben die Fliedner Stiftung und Haus Berge in Essen, beides Einrichtungen mit einer überschaubaren Zahl an Plätzen und langen Wartezeiten.

Die Konsequenz: Besonders bei stark betroffenen alten Menschen sind es oft die Angehörigen, die als letzte Instanz die Pflege übernehmen. Wie hoch deren Zahl ist, ermittelt der Bericht nicht. Lediglich für die Heime wird gesagt, dass fünf Prozent der gerontopsychiatrisch beeinträchtigten Bewohner starke Störungen haben. Das bedeutet, sie sind aggressiv, haben Wutausbrüche, sind rastlos oder leiden unter Psychosen. Laut Bericht führt diese Problematik dazu, dass entkräftete Angehörige, die etwa einen Platz für einen Menschen mit stark fortgeschrittener Demenz suchen, bereit sind, jeden Platz anzunehmen, der sich ihnen bietet.

Wie spielt der Fachkräftemangel in den Heimen bei dem Thema mit rein?

Das Personal ist ein Schlüsselaspekt. So schildert eine Einrichtungsleitung, dass eine spezielle Wohngruppe für Bewohner mit starken Störungen nach drei Jahren wieder aufgelöst wurde, da es für das Pflegepersonal nicht zumutbar gewesen sei.

Ganz offen heißt es: „Bei einem ohnehin angespannten Personalmarkt in der Pflege, unter einer derzeitigen Prognose von knapp 300.000 fehlenden Pflegekräften im stationären Bereich bis 2035, wirft sich die Frage auf, ob die Arbeit in Bereichen, die von Stress und Aggressivität geprägt sind, noch als attraktiv angesehen wird.“

Welche Möglichkeiten gibt es, pflegende Angehörige zu unterstützen?

Der Chefarzt einer psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus schlägt ein ambulantes Angebot vor. Dabei werden Patientinnen und Patienten nach ihrer Entlassung noch eine Zeit lang zu Hause vom Krankenhauspersonal behandelt. Das würde die Aufenthaltszeiten verkürzen und besonders Demenzkranke, die die gewohnte heimische Umgebung brauchen, könnten davon profitieren.

Tatsächlich sieht das Sozialgesetzbuch die ambulante Krankenhausbehandlung bereits seit 2017 vor. Doch aktuell, stellt der Arzt klar, sei dies personell nicht zu stemmen. Kurzfristige Lösungen sehen die Verfasser des Berichts im Schaffen zusätzlicher Plätze in der Tagespflege, in Alltags- und Demenzbegleitern. Zudem sollen pflegende Angehörige besser über Unterstützungsangebote informiert werden.

Wie können die Heime unterstützt werden?

Bislang gibt es keine allgemeinverbindlichen Qualitätsstandards in der Betreuung und Versorgung von gerontopsychiatrisch veränderten Menschen. Dies und eine gezielte Schulung von Fachkräften ist aus Sicht der Verfasser in Zukunft unabdingbar.

Der gesamte Bericht des Fachbereichs Sozialplanung kann hier gelesen werden.