Mülheim. Als Metropolenschreiber verbringt der Autor Ingo Schulze ein halbes Jahr im Ruhrgebiet. Er lebt in Mülheim-Broich und las dort aus seinen Werken.
In seine Wahlheimat Berlin wird der Autor Ingo Schulze bald zurückkehren. Dann endet seine Zeit als Metropolenschreiber Ruhr, ein sechsmonatiger Studien-Aufenthalt im Ruhrgebiet, der von der Brost-Stiftung finanziert wird. Seit Oktober 2022 lebt der 60-Jährige nun in Mülheim-Broich, hat viele Eindrücke im Revier gesammelt. Er schilderte sie bei einer Lesung in der Buchhandlung „Bücherträume“.
Eins vorweg: Ein Buch hat der gebürtige Dresdener, einer der renommiertesten zeitgenössischen Schriftsteller in Deutschland, in den letzten sechs Monaten nicht geschrieben. „Ich bin täglich in der Region unterwegs gewesen, hatte viele spannende Begegnungen und Erlebnisse. Mein Ziel war es, mich der Gegend auszusetzen, etwas vom Ruhrgebiet zu begreifen“, sagt Ingo Schulze. Über den konsequenten Strukturwandel habe er gestaunt, darüber, dass der Mythos vom Malocher schon lange nicht mehr gilt. „Ich bin hergekommen, weil ich noch nie im tiefen Westen gewohnt habe und weil ich von meinen bisherigen Lesereisen wusste, dass die Mentalität der Leute hier unkompliziert ist“, erklärt er.
Autor lebt für sechs Monate in Mülheim-Broich
Das Ost-West-Verhältnis und die „schnelle Wendezeit“ sind Themen, die der vielfach ausgezeichnete Autor immer wieder in seinen Büchern aufgegriffen hat. „Der Übergang von einem zum anderen System, vom Sozialismus zum Kapitalismus hat mich sehr interessiert“, so Ingo Schulze, der sich immer wieder als ein guter Beobachter der Zustände und des Zeitgeistes bewiesen hat.
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In den „Bücherträumen“ las Ingo Schulze gleich aus vier Romanen vor. Aus seinem frühen Werk „33 Augenblicke des Glücks“ (90er Jahre), in dem es um den Besuch von St. Petersburg geht. „Man könnte es als Monolog eines Touristen bezeichnen, der sich einem unangenehmen Umfeld mit barschen Menschen schutzlos ausgesetzt fühlt“, erklärte er Marlott Rotthoff-Wiegel, der Moderatorin des Abends.
Wahl-Mülheimer gibt Einblick in sein Roman-Werk
Aber auch Passagen aus seinen „Simple Storys“, die zur Schullektüre geworden sind, stellte Ingo Schulze vor. Sie berichten von Menschen in der ostdeutschen Provinz, die durch die Wiedervereinigung aus ihren verlässlichen Bahnen herausgerissen werden. Außerdem gab der Autor Einblicke in seinen Schelmenroman „Peter Holtz“ (2017). Der Protagonist der Geschichte entwickelt sich vom Antikapitalisten zum Wiedervereinigungsprofiteur. Auch aus „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) las Schulze schließlich vor.
Man darf gespannt sein, ob, wann und wie er seinen Aufenthalt im Ruhrgebiet literarisch verarbeiten wird. Dafür brauche es ein wenig Abstand, erklärt Ingo Schulze. Zur Aufgabe der Literatur sagt er: „Die Literatur müsste mehr staunen, nicht einfach hinnehmen.“