Essen. Weshalb wird aus einem bürgerlichen Bücherleser ein radikaler Fremdenfeind? Das fragt Ingo Schulze im neuen Roman „Die rechtschaffenen Mörder“.
Wie entsteht ein Roman? Es gibt eine Idee, eine Inspiration, vielleicht einen realen Menschen, eine reale Situation. Es gibt einen Autor und mit ihm eine literarische Verwandlung des Stoffes, dann einen Verlag und die Öffentlichkeit, die Medien. Bis zur Seite 196 gaukelt Ingo Schulze uns vor, hier handle es sich um ein konventionelles Romanwerk, „wenn auch schon für geschulte Leser durch die Überbetonung des Konventionellen von sich selbst distanziert“ (wie seine Lektorin später bemerken wird). Dann aber bringt Schulze sich selbst ins Spiel, schließlich hat besagte Lektorin das letzte Wort - und wir stehen vor den Trümmern jedweder literarischen Gewissheit.
„Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar“
„Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“ So lautet der erste Satz in diesem Werk, und schon bei diesem märchenhaften Onkelton hätte man natürlich aufhorchen müssen. Norbert Paulini ist einfach zu gut für diese Welt. Belesen und unbestechlich, schenkt er noch die wertvollsten Erstausgaben her, wenn sie nur einen würdigen Leser finden.
Wir begleiten diesen Paulini also über Jahre, in denen ein Staat untergeht und ein neuer übernimmt, in denen die Marktwirtschaft altes Papier nahezu wertlos werden lässt und Paulini als Kassierer im Supermarkt endet. Da hat er seine Frau Viola und Sohn Julian längst verlassen, hat Viola doch ihn und seine Bücherfreunde bespitzelt, was sie bis heute als ein „Behüten“ empfindet. Doch gerade, als die Geschichte noch einmal Fahrt aufnimmt, weil Paulinis Sohn Julian rechtsradikale Umtriebe vorgeworfen werden, bricht der Roman ab.
„Den Westlern zeigen, wo wahre Bildung lebte, und auch meine Herkunft adeln“
Auftritt Ingo Schulze, hier als büchervernarrter Schüler (namens „Schultze“) und bester Kunde Paulinis. Intellektuelle Geplänkel, Diskussionen über das Wesen der Literatur, dann eine Frau: Lisa, „die frei ist von der natürlichen Verachtung des Westens gegenüber dem Osten“. Muss man noch schreiben, dass diese Liebschaft im Desaster endet? Zur amourösen Enttäuschung gesellt sich die intellektuelle, nun muss „Schultze“ seinen Paulini-Roman ganz neu denken: „Ich hatte diesem Dresdner ein Denkmal setzen wollen, den Westlern zeigen, wo wahre Bildung lebte, und nebenbei auch meine Herkunft adeln“ - doch habe er verkannt, „wozu ihn das, was wir an ihm bewundert hatten, prädestinierte: zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab.“
Weshalb verwandelt sich ein bürgerlicher Intellektueller in einen Radikalen? Geld oder Liebe könnten ein Grund sein, Enttäuschung – auf den letzten Seiten aber verwirbelt Schulze alles, was er über Paulini und „Schultze“ schrieb, alles, was er über den Ost-Frust, die historischen, politischen, gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten einmal mehr aufwartete. Womöglich sind die Wendungen, die literarischen Spielchen dem Umstand geschuldet, dass Ingo Schulze unterwegs selbst bemerkt hat, wie klischeehaft seine Klagen daherkommen. Spaß machen die Volten dennoch.
Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. S. Fischer, 318 S., 21 €