Mülheim. Mülheimer Zeitzeugen berichten von ihrem Berufseinstieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Was sie als junge Leute erlebten, klingt heute unvorstellbar.
Arbeitslosigkeit, Arbeitsverdichtung, Fachkräftemangel, Stellenabbau, Firmenpleiten, Rationalisierung, prekäre Arbeitsverhältnisse. Das Berufsleben ist nichts für Feiglinge - war es früher aber auch nicht. Das zeigte jetzt eine Zeitzeugen-Lesung im Mülheimer Medienhaus.
Mülheimer Zeitzeugen erinnern sich an ihren Berufsstart nach dem Zweiten Weltkrieg
Horst Heckmann (Jahrgang 1928), Dieter Schilling (Jahrgang 1939) und die 1949 geborene Jutta Loose erinnerten sich an ihre Berufsfindung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu eingeladen hatten die Mülheimer Zeitzeugenbörse und das Centrum für bürgerschaftliches Engagement (CBE).
Heckmann und Loose hatten vor ihrem Start ins Berufsleben die Volksschule besucht. Deren Name war damals Wirklichkeit. Denn zwischen 80 und 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen besuchten in den 1950er und 1960er Jahren die achtjährige Volksschule und starteten dann mit 14 ins Berufsleben. Der in Halle an der Saale aufgewachsene Dieter Schilling hatte zunächst die Grund- und dann die Oberschule der DDR besucht, ehe er sich vom Maschinenschlosser zum Ingenieur hocharbeiten konnte.
Als Jutta Loose nach Volks- und Hauswirtschaftsschule „1966 nicht weiter zur Schule gehen, sondern endlich Geld verdienen wollte“, konnte sie von einem Tag auf den anderen bei einem Hausarzt und Internisten eine Ausbildung als Arzthelferin beginnen. Die Arbeitsmarktlage war Mitte der 1960er Jahre entspannt. Die Arbeitslosenquote lag damals knapp über einem Prozent.
Ehemalige Arzthelferin: „Wir hatten immer eine Bombenstimmung“
Dennoch war der Start ins Berufsleben für die junge Frau aus Dümpten kein Zuckerschlecken. „Meine Arbeitstage in der Praxis begannen damals in der Regel um 7 Uhr und endeten um 22 Uhr“, erinnert sich Loose. Dennoch sagt sie auch: „Die Arbeit hat uns Spaß gemacht, und wir hatten immer eine Bombenstimmung. Unser Chef lud uns mittags zum Essen ein und belohnte unsere Leistung mit einem großzügigen Freitagsbonus.“
Neue Zeitzeugen jederzeit willkommen
Neue Gesichter sind den Mülheimer Zeitzeugen immer willkommen. Sie treffen sich an jedem dritten Mittwoch im Monat von 10 bis 12.30 Uhr in der Seniorenresidenz Sommerhof am Tourainer Ring/Ecke Hingbergstraße. Manfred Zabelberg, der die 2011 gegründete Mülheimer Zeitzeugenbörse zusammen mit Brigitte Reuß leitet, würde sich insbesondere über Zeitzeugen freuen, die aus ihrer Erinnerung die deutsch-deutsche Geschichte nach 1945 beleuchten können.Kontaktaufnahme ist möglich per E-Mail an: zeitzeugenboerse@gmx.de oder über das CBE an der Wallstraße 7 unter 0208-9706813.Weitere Informationen zu den Zeitzeugen, die live und online Auskunft geben, findet man im Internet unter: https://unser-quartier.de/zzb-muelheim
Ihre Berufswahl hat sie nie bereut, „auch wenn meine Mutter lieber gesehen hätte, dass ich Abitur gemacht und anschließend studiert hätte“. Ihrem ursprünglichen Traumberuf Ärztin kam Jutta Loose als Arzthelferin sehr nahe. „Mein Chef hat mir immer freie Hand gelassen, ich durfte regelmäßig Weiterbildungen besuchen und so mein medizinisches Tätigkeitsfeld erweitern. Auch von den Patienten habe ich viel Dankbarkeit und Anerkennung erfahren“, betont Loose.
Krieg zerstörte den Traum von der Seefahrt
„Das Wort Traum vor dem Wort Beruf konnte ich streichen. Ich war nach dem Krieg mehr mit der Essenssuche, als mit der Berufsfindung beschäftigt“, erinnert sich der Styrumer Horst Heckmann. „Eigentlich wollte ich zur christlichen Seefahrt. 1944 habe ich meine Ausbildung an der Seemannsschule in Hamburg begonnen“, sagt Heckmann. Doch dann kamen Reichsarbeitsdienst, Wehrmacht, Krieg, Gefangenschaft und eine ihn körperlich überfordernde Episode als Bergmann auf der Heißener Zeche Wiesche.
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Das Schicksal kam dem jungen Mann zu Hilfe. Im Herbst 1945 wollten sein Vater und er die Mutter aus der Thüringer Landverschickung zurückholen. Seine Eltern kamen zurück nach Mülheim. Doch Heckmann blieb in Thüringen, weil er dort „als Seiteneinsteiger nach einem pädagogischen Schnellstudium Volksschullehrer werden konnte, da man in der DDR alle in der NS-Zeit aktiven Lehrer entlassen hatte“. Das Unterrichten machte ihm so lange Freude, „bis der politische Druck auf meine Lehrinhalte und die zunehmende Bespitzelung mir zeigten, dass die DDR nur noch dem Namen nach demokratisch und tatsächlich zu einer stalinistischen Diktatur geworden war“.
Neustart als Kaufmannslehrling: „Man darf nie aufgeben“
So kam Horst Heckmann im Sommer 1954 als Flüchtling in seine Heimatstadt zurück. Doch seine Lehrerausbildung wurde hier nicht anerkannt. Er musste als Kaufmannslehrling ganz neu anfangen. Aber Heckmann machte seinen Weg, erst bei einer Möbelfirma und später bei der Privatärztlichen Verrechnungsstelle. „Das Berufsleben geht Umwege. Aber man darf nie aufgeben“, sagt Heckmann rückblickend.
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Umwege musste auch Dieter Schilling gehen, der als Ingenieur in der DDR ein vergleichsweise privilegiertes, aber auch politisch angepasstes Leben voller Bespitzelung, Misstrauen und ohne Freiheit führte. „1982 nutzten meine Frau und ich einen Jugoslawien-Urlaub zur Flucht in den Westen, weil wir merkten, das wird hier immer schlimmer und wird über kurz oder lang mit einem riesigen Knall auseinanderfliegen“, erinnert sich Schilling. Sein Glück: Als Ingenieur fand er bei einem Duisburger Industrieunternehmen, das er bereits als DDR-Reisekader kennengelernt hatte, einen neuen Arbeitsplatz im freien und kapitalistischen Westen Deutschlands.