Essen. Wenn ein Baby vor, während oder kurz nach der Geburt stirbt, wird Katja Radloff gerufen: Die Essenerin fotografiert für „Dein Sternenkind“.
Schon wenige Tage, nachdem sie sich bei der Initiative „Dein Sternenkind“ beworben hatte, ging auf dem Handy von Katja Radloff die erste Nachricht ein: In der Essener Uniklinik wird in einigen Tagen Mina geboren, ein kleines Mädchen, das keine Nieren hat und nur wenige Minuten leben wird. Das ist nun drei Jahre her. Aber noch immer ist es berührend für die Essener Fotografin, die ersten und gleichzeitig letzten Momente festzuhalten, die Eltern mit ihrem Kind erleben. Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen sind dabei die entscheidenden Gaben.
Am Tag der Geburt von Mina musste Radloff eine halbe Stunde vor dem Kreißsaal warten. „Das war wirklich schlimm und kam mir endlos lange vor. Das Kopfkino ist groß: Was erwartet mich? Wie sieht das Baby aus? Wie gehe ich mit den Eltern um? Kann ich das überhaupt?“ All diese Gedanken seien ihr durch den Kopf gegangen.
„Als ich dann endlich in den Raum gehen konnte, hatte die Mama die kleine Mina auf dem Arm“, sagt Radloff. Sie bekomme Gänsehaut, wenn sie daran zurückdenkt: „Bei all diesem Schmerz und all dieser Trauer war da ganz viel Liebe und die Eltern waren so stolz auf ihr Kind. Auch, wenn es eben nicht bleiben kann.“
Die Kinder berühren - ein sehr besonderer Moment
Mittlerweile hat Radloff über 130 Babys fotografiert, die nach der 14. Schwangerschaftswoche gestorben sind. Ab dann gelten sie offiziell als Sternenkinder. „Ich begrüße immer zuerst die Eltern und spreche dann ein paar Worte zu dem Sternenkind. Es hilft mir anzukommen. Das ist ein sehr besonderer Moment für mich.“
Meistens berührt sie die Kinder dabei. „Manche Eltern sind total verdutzt, weil sie ihr Kind selbst noch gar nicht angefasst haben. Bei vielen bricht dann ein Damm und sie kuscheln ganz viel mit den Mäusen.“ Dabei fotografiert die 36-Jährige dann die Familien: „Wenn man den Eltern vorschlägt, zusammen Fotos zu machen, sind viele skeptisch. Jeder hat direkt diese Familienfotos im Kopf, auf denen alle glücklich in die Kamera lächeln.“
Auf Radloffs Fotos blicken die Eltern zu ihrem Kind oder halten seine Hand. „Wir wollen die Verbindung darstellen.“ Die Verbundenheit und Liebe festzuhalten, sei auch die Motivation für ihr Engagement bei „Dein Sternenkind“.
Erinnerungsfotos sind Trauerarbeit
Für die Eltern schafft Radloff Erinnerungen, die ihnen bei der Aufarbeitung des Verlustes helfen können. „Alle fluten ihr Handy mit Fotos vom Baby. Jeder Gesichtsausdruck, jede Handbewegung wird festgehalten. Das sind Erinnerungen, die man sich in vielen Jahren anguckt. Aber die Eltern von Sternenkindern haben einfach eine unsagbar kurze Zeit, um Erinnerungen festzuhalten.“
Die Fotos seien auch ein Beweis für die Eltern, dass es ihr Kind überhaupt gab. „Sternenkinder dürfen kein Tabu-Thema mehr sein“, findet Radloff. Erst seit 2013 können Eltern die Geburt ihres Sternenkindes beim Standesamt dokumentieren lassen „und ihrem Kind damit offiziell eine Existenz geben“, heißt es vom Familienministerium.
Nachfrage nach Sternenkind-Fotos wächst
Auch der Umgang in Krankenhäusern mit den Sternenkindern wandle sich erst seit einigen Jahren, berichtet Radloff: „Ganz früher war es gang und gäbe, dass das Kind in eine Schale kommt und einfach weggebracht wird.“ Mittlerweile hätten viele Kliniken spezielle Boxen, Decken und Kleidung für die Babys angeschafft.
Mit ihrer Arbeit will Radloff aufklären und das Bewusstsein dafür stärken, wie viele Sternenkinder es gibt. 2020 hatten die rund 600 ehrenamtlichen Fotografinnen und Fotografen von „Dein Sternenkind“ insgesamt 3259 Einsätze in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Im Januar fotografierten sie trotz strenger Corona-Schutzregelungen 324 Sternenkinder, so viele wie nie zuvor innerhalb eines Monats. „Es gibt Tage, da schrillt der Alarm auf dem Handy durchgängig“, sagt Radloff.
Fotografin bindet Geschwisterkinder ein
Ihr ist es wichtig, den Familien die Möglichkeit zu geben, über ihr Sternenkind zu sprechen. Daher versucht sie, ältere Geschwisterkinder einzubeziehen, indem sie ihnen die Geschichte der Reise zu den Sternen erzählt:
„Ich sage ihnen, dass ihr Brüderchen oder Schwesterchen heute auf dem hellsten Stern sitzt. So viele Eltern erzählen mir später, dass der große Bruder oder die große Schwester abends aus dem Fenster geguckt und den Stern gesucht haben.“
Die Einsätze mit Geschwisterkindern seien für Radloff etwas ganz Besonders. „Wenn ich sage, dass es ein schöner Einsatz war, werde ich komisch angeguckt. Weil man sich nicht vorstellen kann, dass es schön sein kann. Genauso wie sich niemand vorstellen kann, dass man bei diesen Einsätzen auch lacht. Dabei lache ich bei sehr vielen Einsätzen mit den Eltern. Natürlich weinen wir auch. Und manchmal sitzen wir minutenlang still da und gucken das Mäuschen an.“
Kostenlos Fotografen anfordern
Eltern, Angehörige, Hebammen oder Klinikpersonal können einen Fotografen kostenlos anfordern, über das Webformular unter www.dein-sternenkind.eu oder über die Notfallnummer 062579185009. Der Erstkontakt läuft über einen der 14 Koordinatoren, die alle wichtigen Informationen sammeln.
Über eine Handy-App alarmieren sie die Fotografinnen und Fotografen der betroffenen Region. Wer Zeit hat, nimmt den Einsatz an. Katja Radloff hat ihren Fotorucksack deshalb immer dabei.
Manche Eltern öffnen die Fotoschachtel nie oder wollen sie vor lauter Schmerz nicht erhalten
Besonders bewegend sind Einsätze, bei denen das Kind noch lebt. Meistens bleibt Radloff im Zimmer, wenn das Kind stirbt. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie ich es schaffe, damit umzugehen. Ich habe liebe Freunde, einen lieben Mann, liebe Sternkind-Fotografen, mit denen ich darüber sprechen kann. Das ist auch das, was ich den Eltern immer mitgebe: Bitte redet über euer Sternenkind. Das ist so wichtig.“
Ihre Fotos druckt sie für die Eltern aus, verpackt sie zusammen mit Vergissmeinnicht-Samen und einem Engel aus Olivenholz in eine Schachtel. Das alles ist für die Eltern kostenlos, mit manchen, wie denen vom ersten Einsatz, ist sie bis heute befreundet.
Radloff weiß, dass andere die Schachtel niemals öffnen werden – oder der Schmerz sogar so groß ist, dass sie diese niemals haben wollen. „Als ich einer Familie Bescheid gegeben habe, dass ich die Fotos morgen verschicken werde, hat der Papa mich gefragt, ob ich damit noch warten kann. Nach zwei oder drei Monate habe ich ihm noch mal geschrieben und er fragte wieder, ob ich die Fotos noch aufbewahren kann.“ Das sei nun eineinhalb Jahre her. Vielleicht werde es dabei bleiben, vielleicht kommt die Zeit.