Mülheim. Der Historiker Hubertus Knabe, in Mülheim aufgewachsen und ehemals Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen sprach zur Deutschen Einheit.
Mit einer starken und gegenwartsbezogenen Rede hat der in Mülheim aufgewachsene Historiker Hubertus Knabe am 3. Oktober im Ratssaal den 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung gewürdigt. Ein Kernsatz seiner zurecht mit viel Applaus bedachten Rede lautete: „Lassen wir uns nicht von der Angst leiten, sondern beharren wir auf unserer Freiheit.“
„Eine Diktatur ist überwindbar“
Mit dem Blick auf aktuelle Meinungsumfragen des Institutes für Demoskopie in Allensbach, zeigte der ehemalige Leiter der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin Hohenschönhausen auf, dass bei vielen Bundesbürgern die Sicherheit vor der Freiheit rangiere und viele Menschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sogar Angst hätten, ihre Meinung zu politischen Themen öffentlich zu äußern. „Es bröckelt heute an vielen Stellen. Unsere Demokratie ist heute leider angefochtener und weniger stabil als vor 30 Jahren“, sagte der Sohn des aus Sachsen stammenden grünen Alt-Bürgermeister Wilhelm Knabe (96).
Der ehemalige Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde nannte Mauerfall und Wiedervereinigung „ein besonders schönes Beispiel dafür, dass Geschichte immer in Bewegung ist und dass auch eine Diktatur überwindbar ist.“ Er erinnerte daran, dass sein Vater als grüner Bundestagsabgeordneter in den Jahren 1987 bis 1990 die Opposition in der damals noch existierenden DDR aktiv unterstützt habe. „Auch wenn die Mehrheit gesichert ist, will ich mich nicht dahinter verstecken. Ich muss selbst entscheiden, wenn ich meinen Verwandten und meiner Frau, mit der ich 1959 aus der DDR geflohen bin, noch in die Augen schauen will“, zitierte Hubertus Knabe aus der Rede seines Vaters, in der er am 20. September 1990 vor dem Deutschen Bundestag begründete, warum er gegen die Mehrheit seiner Fraktion für den deutsch-deutschen Einigungsvertrag stimmen werde.
Demokratie hat keine Sicherheitsgarantie
Am Beispiel von Nichten und Neffen, denen in der DDR das Abitur und ein Studium verweigert wurden, weil sie sich der Vereinnahmung durch die Indoktrination in den Massenorganisationen der SED-Staates entzogen, machte Knabe deutlich, dass die DDR unbestreitbar ein Unrechtsstaat gewesen sei. Wer heute in der Bundesrepublik Deutschland einen Systemwechsel als Teil des Kampfes gegen den Klimawandel fordere, solle nicht vergessen, dass der CO2-Ausstoß in der DDR doppelt so hoch wie im wiedervereinigten Deutschland gewesen sei.
Geschichtsvergessene Menschen, die heute bei Demonstrationen gegen die Corona-Schutzbestimmungen vor dem Reichstag in Berlin die Reichskriegsflagge schwenken, zeigen in Knabes Augen, „dass auch unsere Demokratie keine Sicherheitsgarantie hat.“ Das Beispiel der Weimarer Republik zeige, so Knabe, „dass eine Demokratie auch in eine Diktatur hineinwachsen könne, die dann nur sehr schwer wieder zu beseitigen ist, wenn sie einmal Fuß gefasst hat.“ In diesem Zusammenhang forderte Knabe von der mittleren und älteren Generation verstärkte Anstrengungen, um die jüngere Generation politisch und historisch besser zu bilden und ihr aufzuzeigen, wie eine Diktatur entstehen könne und was der Verlust von Freiheit bedeute.
Meinungen Andersdenkender aushalten
Hier verwies der Historiker, der vor 42 Jahren sein Abitur an der Karl-Ziegler-Schule gemacht hat, darauf, dass die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, anders als in den DDR-Verfassungen nicht nur Theorie, sondern auch politische Praxis seien. Die DDR, die ihre Bürger zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ erziehen wollte, sei auch deshalb politisch und wirtschaftlich gescheitert, weil sie eine Ideologie vertreten und gelebt habe, „in der das Individuum hinter dem Kollektiv zurücktreten musste“ und so zu einer „sozialistischen Verantwortungslosigkeit gezwungen wurde, in der sich niemand als eigenständige Persönlichkeit entfalten konnte.“
Auch Kommunalpolitiker gefragt
Corona-bedingt konnten am Festakt zum 30. Tag der Deutschen Einheit im Ratssaal nur wenige geladene Gäste teilnehmen. Jeder zweite der 54 Sitzplätze musste leer bleiben.
„Danke, dass sie uns mit Ihrer Rede noch einmal den besonderen Wert der Freiheit ins Bewusstsein gerufen haben. Dieses Bewusstsein zu fördern, ist auch eine Aufgabe für uns Kommunalpolitiker“, sagte Bürgermeisterin Margarete Wietelmann, an Knabe gewandt.
Da der geplante Empfang nach dem Festakt ausfallen musste, bekamen alle Gäste eine Flasche Rotkäppchen-Sekt mit auf den Heimweg. Eine erfolgreiche ehemalige DDR-Marke. die heute übrigens einen Pressesprecher aus Mülheim (Ulrich Ehmann) hat.
Freiheit, Eigenverantwortung und Eigeninitiative, so Knabe, „sind die Voraussetzungen und die Grundlage dafür, dass Deutschland heute eines der wohlhabendsten Länder der Erde ist.“ Der 1959 geborene Historiker, der in seiner Mülheimer Jugend zu den Blattmachern des alternativen Stadtmagazins Freie Presse gehörte, charakterisierte die im Grundgesetz verankerte „Meinungsfreiheit“ und die „Fähigkeit, auch die Meinungen Andersdenkender auszuhalten und nicht automatisch als Bedrohung anzusehen“ als „das Elixier der Demokratie, dass uns als Gemeinwesen innovationsfähig macht.“ In diesem Sinne warnte Knabe davor, „sich ein Freund-Feind-Denken zu eigen zu machen“, dass nicht nur in der SED-Diktatur der DDR systemimmanent gewesen sei.