Mülheim. Jeden Tag spielt das Mülheimer Ehepaar Tewes ein Vorgartenkonzert in Speldorf – am Samstag zum 150. Mal. Für viele ein Weg aus der Isolation.

Rund 40 Speldorfer haben sich vor einem Haus in der Eisfahrtstraße versammelt. Wie jeden Abend. Seit nunmehr 150 Tagen. Aus einem spontan gesungenem Lied vor vielen Wochen, hat sich in der Speldorfer Nachbarschaft ein allabendliches, liebgewonnenes Ritual entwickelt: die Balkon- und Vorgartenkonzerte.

Auch das 150. Vorgartenkonzert auf dem Grundstück von Annegret und Gregor Tewes wird traditionell mit Gongschlägen eingeläutet. Am Samstag sind etwas mehr Besucher als sonst gekommen, schließlich gilt es, ein Jubiläum zu feiern. Seit Beginn des Corona-Lockdowns macht das Ehepaar Tewes gemeinsam mit der Nachbarschaft Musik. Immer eine Viertelstunde. Eine Viertelstunde, die die Nachbarn näher zusammengerückt hat; ein Wir-Gefühl ist entstanden, das es in der beschaulichen Siedlung vor Corona nicht in dieser Intensität gab, wie heute.

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Mülheimer Balkonkonzerte: „Hätten nicht gedacht, was sich daraus entwickelt“

„Angefangen hat es eigentlich damit, dass mein Mann und ich – als noch jeden Abend die Kirchenglocken geläutet haben – auf dem Balkon ,Der Mond ist aufgegangen’ gesungen haben“, sagt Annegret Tewes, die gemeinsam mit Ehemann Gregor den Kirchenchor in St. Michael leitet. „Was sich dann daraus entwickelt hat, das hätten wir nicht gedacht.“

Allabendlich gesellten sich, natürlich mit gebotenem Abstand, immer mehr Nachbarn und Spaziergänger dazu, schon lange ist es nicht mehr nur bei einem Lied geblieben. Außerdem zeigt das musikalische Ehepaar eine immer größer werdende Palette an Instrumenten. Ob Fagott, Klarinette, Flöte oder Klavier, Annegret und Gregor Tewes sind immer für eine Überraschung gut.

Diverse Gastmusiker haben das Corona-Vorgartenkonzert schon begleitet. Auch das „Trio Anklang“, dem neben Annegret Tewes noch Maria Korfmann und Gerd Fölting angehören, gestaltet das nachbarschaftliche Beisammensein regelmäßig mit. Mit Klangschalen und großen Gongs verbinden sie Literatur mit Musik.

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„Man ist schon sehr isoliert durch Corona“

Am meisten hat die Nachbarschaft jedoch das gemeinsame Singen zusammengeschweißt. Auch bei der 150. Ausgabe des Vorgartenkonzerts werden Liedtexte verteilt. Den Auftakt macht „Musikanten sind in der Stadt“ von Reinhard Mey. Gefolgt von spirituellen Klängen mit Gong und Klangschalen, die Heilpraktikerin Tewes auch in ihren Therapien einsetzt.

Passend, findet Anita Fackert, die zu jedem Vorgarten-Konzert kommt. „Diese Viertelstunde tut mir unheimlich gut, denn man ist schon sehr isoliert durch Corona“, meint die Speldorferin, die seit 40 Jahren in der Nachbarschaft lebt. „Ich singe gerne und habe meine Nachbarn jetzt viel besser kennengelernt.“

Nähe in Zeiten des Abstandhaltens, die finden viele Besucher der kleinen Konzerte vor dem Haus von Ehepaar Tewes. Es hat sich eine eingeschworene Gemeinschaft entwickelt, die in den Corona-Zeiten fest zusammenhält. Ein Pärchen aus der Nachbarschaft hat sogar den Urlaub verschoben, um beim Jubiläumssingen dabei zu sein.

Stolz darauf, seit Corona durchzuhalten

Und es ist auch ein gewisser Stolz zu spüren. Stolz darauf, dass man durchgehalten habe und es nicht bei einem halbherzigen Balkon- oder Vorgarten-Konzert geblieben ist, wie es sie zu den Anfängen von Corona zuhauf gegeben hat, die meisten aber schnell und leise wieder verklungen sind.

So wird auch heute, morgen und auch übermorgen um 19.30 Uhr in der Eisfahrtstraße gemeinsam musiziert. An diesem Samstag, zur Feier des Tages, bleiben die Nachbarn noch ein bisschen länger zusammen. Stoßen an, auf neu gewonnene Freunde und den nachbarschaftlichen Zusammenhalt. Musikalisch endet das Jubiläum, wie es vor 150 Tagen begonnen hat. Auch wenn er an diesem Hochsommerabend noch nicht gut zu sehen ist, schallt es aus der kleinen Speldorfer Siedlung „Der Mond ist aufgegangen“.