Mülheim. Zwischen Straßenwahlkampf und Spielplatzidylle suchen Mülheimer Kandidatinnen vor der Wahl Nähe zu Bürgern. Warum dies oft ein hartes Brot ist.
Und dann passiert es doch: Ein Guss aus Frust und Enttäuschung bricht am Dienstagmorgen über die Dümptener SPD-Kandidatin Gabi Hawig herein. Die zierliche Lehrerin für Politik und Sowi muss auf ihrer Wahlkampftour durch das „Königreich Dümpten“ für Verfehlungen ihrer Partei geradestehen: fehlende Kita-Plätze, Abbau der Mittelschicht und Bildung, Corona-Gängeleien kritisiert eine Mutter eine menschenferne Politik. Der Kommunalwahlkampf 2020 wird ein hartes Brot.
Dabei will Hawig ja ganz nah am Bürger sein, ohne Hemmschwellen reden, raus aus der Komfortzone. „Die SPD ist wach geworden“, sagt sie. Nur in Corona-Zeiten fallen Hausbesuche und öffentliche Debatten weitgehend flach.
„Die SPD ist wach geworden“
Kein Info-Stand, sondern das Fahrrad hat die 61-jährige Realschullehrerin deshalb aufgerüstet mit Gute-Laune-Gepäck: rote SPD-Fähnchen, Gummibärchen, Erfrischungstücher und Multivitamin-Bonbons. „Kommen Sie gut durch den Sommer“, lächelt die Genossin, die seit ‘85 in der Partei ist, in Marl den Schulausschuss leitete. Und seit 2011 in Dümpten lebt. Hawig ist auf Listenplatz 21 – „keine Chance darüber reinzukommen“, sagt sie selbst. Für den Ratssitz muss die Neue das Direktmandat holen.
Die Lehrerin hat ein warmes, zugewandtes Lächeln. Die Leute quittieren das oft mit Freundlichkeit, politische Gespräche führen sie jedoch kaum – „keine Zeit“, hört Hawig oft. Aber sie sind auch nicht unmöglich: Mit zwei Dümptener Frauen hat sie am Gartenzaun über die Angst vor Überfremdung gesprochen. „Der Sorge muss man begegnen: Es gibt hier Häuser, wo man sich untereinander sprachlich nicht verständigen kann“, zeigt die Kandidatin für den Wahlbezirk Dümpten-Styrum Verständnis.
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„Es ist nicht alles so unsicher, wie es die AfD darstellt“
Sicherheit und Sauberkeit sind weitere Themen, die Hawig präventiv schon in der Schule und in den Kitas anpacken will. Und nicht mit mehr Polizei. „Das ist der Unterschied zwischen der SPD und der AfD“, will Hawig mit Bildung, mehr Kommunikation und vor allem Faktenchecks kontern: „Es ist längst nicht alles so unsicher, wie es die AfD darstellt.“
Doch auf der Straße wird der Faktencheck schwer. Das zeigt sich im Gespräch mit einer Dümptener Mutter: „Die Politik hat den Bezug zur Realität ihrer Bürger verloren“, resümiert sie nach vielen Kritikpunkten. Hawig hört geduldig zu. Es ist keine AfD-Wählerin – im Gegenteil: Sie ärgert sich, dass die Politik eine AfD größer werden ließ. Ein Problem, das auch Hawig sieht: „Wir haben uns in der Vergangenheit zu oft zerfleischt. Aber es ist auch schwer, komplexe Sachverhalte in der Kommunalpolitik zu vermitteln.“
Wahlkampf mit Kindern – Männer haben’s leichter in der Politik
Szenenwechsel: „Jetzt sagen bestimmt manche wieder: Die macht Wahlkampf mit ihren Kindern“, setzt Franziska Krumwiede-Steiner ihre kleine Tochter im Holzhäuschen ab und wischt sich kurz die Haare zur Seite. Am Mittwochnachmittag hält die Grüne Kandidatin eine Bürgersprechstunde auf dem Spielplatz Marienhof. Im eigenen Kiez Holthausen.
Heraus aus der Komfortzone? Im Augenblick ist das für die Grüne Kandidatin eine echte Herausforderung. Die Kitas sind dicht, keine Möglichkeit, die Kinder betreuen zu lassen. „Ich kann sehr hart streiten“, sagt Krumwiede-Steiner, aber mit Kindern im Straßenwahlkampf? Kaum denkbar. Ihre männlichen Kollegen haben dieses Problem der Doppelbelastung übrigens selten. Und nicht nur, weil Corona-Regeln just die Frauen stärker belasten.
Doch der vertraute Kiez-Spielplatz, umringt von idyllischen Einfamilienhäusern, stellt auch eine Nähe her, die Krumwiede-Steiner nutzt und Mütter schätzen, die den sozialen Treffpunkt besuchen. „Wir diskutieren hier viel über Politik, natürlich weil wir Franzi kennen“, findet eine junge Frau den „kurzen Weg“ gut. Das helfe, gerade lokalpolitische Entscheidungen zu verstehen, auch „warum vieles so lang dauert, zum Beispiel die Kitabetreuung“.
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Wie das Umfeld den eigenen Blick aufs Politische prägt
Ein Radler kommt vorbei und hält kurz, weil er „Franzi“ erspäht hat: Das Radeln an der Zeppelinstraße sei ein Graus, gerade die Strecke am Steinknappen sei gefährlich. Krumwiede-Steiner nimmt das auf – typisch für die Lokalpolitik.
„Ich bin in die Politik gegangen, weil ich gestalten will“, sagt sie. Wie weit aber beherrscht das Umfeld den eigenen Blick aufs politische Handeln? Durchaus spürbar: Die Grüne will sich einsetzen für mehr Offenen Ganztag, eine neue Gesamtschule, bezahlbaren Wohnraum, mehr ÖPNV und Radwege – nicht nur an der Zeppelinstraße. Vieles in der Stadt brauche einfach zu lang, werde auf die lange Bank geschoben, kritisiert die Grüne: „Man muss aufpassen, dass man nicht phlegmatisch wird. Politik braucht Ausdauer.“