Mülheim. Wie Corona am gesellschaftlichen Ort Theater kratzt, konnte man im Mülheimer Ringlokschuppen erleben. Doch Maura Morales’ Tanzstück war grandios.
Wie tanzt man Einsamkeit? Wie beherrscht die Sehnsucht unsere Körper? Die Angst? Im Zittern, im Erstarren, im Fallen und Aufrichten hat die Choreografin Maura Morales eine eigene starke Sprache gefunden, die die Fragen um Emanzipation und weibliche Lust neu stellt. Ihr „Wunschkonzert“ am Freitag und Samstag im Ringlokschuppen erhielt nicht nur durch die Corona-Bedingungen einen zusätzlichen Deutungsrahmen.
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Doch das ist vielleicht die nahe liegende Assoziation. Denn nach rund drei Monaten der Pandemie ist das Erleben von Live-Theater auf der Bühne nicht mehr dasselbe. In strenger Isolation wird jeder der knapp 30 Gäste einzeln an seinen Platz geführt und dort auch vor Beginn abgeholt.
Knapp 30 Gäste im Ringlokschuppen Mülheim - jeder wird einzeln zum Platz geführt
Getränke werden an den Stehtisch gebracht, überflüssige Wege und Kontakte vermieden. Getrunken wird wenig, ohne Gegenüber fehlt das Gesellige. Im langen und gekrümmten Halbrund des ehemaligen Eisenbahndepots steht man einsam und sieht einander kaum.
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Auch im Saal herrscht nicht nur körperliche Distanzierung – der englische Begriff „social distancing“ macht deutlich, wie sehr die körperliche zur sozialen Nähe gehört. Viele orientieren sich erst einmal angesichts der verordneten Abstände: Wo sind die anderen? Wie viele sind da? Jemand hustet mehrfach hinten in der Reihe – lässt man besser die Maske auf? Der gesellschaftliche Ort „Theater“ zerfällt. Ein Gefühl, so ernüchternd und trostlos wie Netflix-Gucken. Ist das schon Teil der Inszenierung?
Vorlage für das Tanztheater ist ein Stück von Kroetz
Es wäre wohl zu kurz gesprungen. Zwar beginnt beginnt Morales’ Tanztheater ähnlich wie das ursprüngliche Theaterstück „Wunschkonzert“ aus den Siebzigern von Franz Xaver Kroetz, den manche als Klatschreporter Schimmerlos in Kir Royal kennen. Protagonistin Frau Rasch betritt ihre Einzimmerwohnung. Hier ist alles buchstäblich wie gemalt: Die penibel saubere Küchenzeile, das Bücherbord, der adrette Blumenstrauß sind schwarze Strichzeichnungen auf den weißen Wänden.
Doch nun ist alles anders: Zitternd und ruckartig wie eine Marionette durchschreitet Morales im strengen Kleid den sterilen Raum. Riecht an den gemalten Blumen, schreitet und fällt zum Hocker. Rasch lauscht dem „Wunschkonzert“ aus dem roten Radio, aus dem die Leidenschaft zu bluten scheint: Übers Küssen spricht die Radiostimme in dieser körperlosen Welt, über Verlangen, übers Vögeln.
Erotisches dringt aus einem roten Radio
Morales kontrastiert die provokativ-erotischen Radiopassagen immer wieder virtuos mit krampfartigen, isolierten Bewegungen zu knochenknackenden Beats. Hände, Füße, Kopf scheinen nicht mehr zusammen zu gehören. In solchen Augenblicken stehen Haare zu Berge. Rebelliert der Körper gegen seine entmenschlichte Umwelt? Oder sind das seine letzten Zuckungen?
Man mag sich an Becketts absurdes Theater „Endspiel“ erinnern. Auch hier ist der Körper nur noch Abfall in einer Restmülltonne. Morales’ „Wunschkonzert“ schafft solche Endspiel-Momente, wenn die Toilette geräuschvoll gurgelt, das Klopapier raschelt. Wenn Rasch wie eine verrenkte Marionette endlos quälende Augenblicke lang reglos auf dem Boden liegt.
So geht’s weiter im Ringlokschuppen
Am Freitag, 19. Juni, zeigt das Kollektiv vorschlag:hammer seine neue Produktion „Twin Speaks“. Frei nach der Fernsehserie von David Lynch („Twin Peaks“) geht es um die Ermittlungen nach einem mysteriösen Leichenfund.
Der Clou bei der Sache: Die Inszenierung findet über das Smartphone statt. In einen Telegram Chat führen Text- und Sprachnachrichten, Sticker und Videos an mysteriöse Orte und ihre Bewohner. Die Links zum Chat: t.me/ringlokschuppen_freitag
Weitere Inszenierung am Samstag, 20. Juni: t.me/ringlokschuppen_samstag. Beginn ist jeweils um 20 Uhr.
Doch anders als Kroetz’ „Wunschkonzert“ will die Tanz-Bearbeitung kein ironisierendes Gemälde einer „sauberen Gesellschaft“ sein. Morales zeigt Rasch vielmehr mitfühlend als tragische Frau, die an ihrer Entfremdung leidet. Und öffnet damit den Blick auf eine zutiefst feministische Betrachtung der strukturellen Gewalt gegenüber weiblicher Lust.
Vielleicht wundert es also nicht, dass Maura Morales die eingespielten Passagen des Urtextes allmählich in stotternde Sequenzen zu einem Beat zerhackt. Und Rasch am Ende vieldeutig nicht die schicksalhafte Überdosis Schlaftabletten schluckt, sondern stattdessen eine Rosenblüte.