Mülheim. Aus Angst vor Corona-Ansteckungen trauen sich viele Mülheimer nicht mehr in Arzt- und Notfallpraxen. Das sei gefährlich, sagen die Ärzte.
Eine Blasen-, die sich zur Nierenbeckenentzündung ausweitet, ein Jucken am Rücken, das sich zur Gürtelrose entwickelt – nur zwei von vielen Beispielen, die gefährlich werden können, wenn nicht sofort ein Arzt behandelt. 30 Prozent weniger Patienten verzeichnet die Mülheimer Notfallpraxis im St. Marien-Hospital, auch die Hausarztpraxen sind deutlich schlechter besucht – für die Mediziner eine alarmierende Entwicklung.
Patienten sorgen sich vor Ansteckungen in Notfallpraxis
„In der Notfallpraxis können schwerwiegende Krankheiten verhindert werden“, sagt Allgemeinmediziner Dr. Stephan von Lackum. „Es ist ein ganz großes Problem, wenn sich die Menschen nicht dorthin trauen.“ Dass es weniger Notfälle gibt, sei unwahrscheinlich. Die Notfallpraxis ist an das St. Marien-Hospital angeschlossen – für manche vermutlich ein Grund, ihr fernzubleiben.
Dabei gibt es einen separaten Eingang, die Hygiene- und Schutzmaßnahmen machen eine Ansteckung überaus unwahrscheinlich. Die Patienten zeigten sich sehr diszipliniert, desinfizieren sich die Hände, tragen Schutzmasken, manche sogar Handschuhe, die gar nicht nötig wären.
Kinderärzte: Weniger Infektionen durch Isolation
Doch nicht nur die Notfallpraxis wird seltener besucht. Auch in seiner eigenen Praxis betreut Stephan von Lackum deutlich weniger Patienten seit der Corona-Krise. Anfangs sei es sogar nur die Hälfte gewesen, mittlerweile liege auch hier der Rückgang bei rund 30 Prozent.
Genauso sieht es an den vier Standorten der Kinderärzte „Kids 4.0“ in Dümpten, Heißen, Speldorf und Saarn aus. „Weil die Isolations- und Hygienemaßnahmen gut umgesetzt werden, gibt es auch viel weniger Infekte“, begründet Dr. Olaf Kaiser den Rückgang. Außerdem sei die Ansteckungsgefahr minimiert, weil weniger Kinder zur Schule und in den Kindergarten gehen.
Eltern haben weniger Gesprächsbedarf
Manche Eltern allerdings sorgen sich auch vor einem Praxisbesuch. Der sei aber, so Kaiser, „eine ungefährliche Sache“. Termine seien so getaktet, dass Patienten meist von der Eingangstür direkt ins Behandlungszimmer gehen können. Nichtsdestotrotz seien Alltagssorgen, die sonst eine viel größere Rolle spielten, derzeit deutlich weniger Thema, es gebe viel weniger Gesprächsbedarf.
Priorität hat für Olaf Kaiser und seine Kollegen aber die Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen. Außerdem bieten die Praxen Telefonsprechstunden und versuchen auch, Videosprechstunden zu ermöglichen, wenn die Technik der Familien das zulässt.
Viele Patienten in Deutschland: 16 Arztbesuche pro Jahr
Finanzielle Auswirkungen noch nicht absehbar
Welche finanziellen Auswirkungen die Corona-Krise auf die Ärzte haben wird, sei noch nicht absehbar, sagt Uwe Brock. Die Abrechnungen werden erst ein halbes Jahr später gemacht, Einbußen könnten erst Ende des Jahres festgestellt werden.
Auf jeden Fall sei die Zahl der Leistungen niedriger, und zum Beispiel eine telefonische Beratung werde geringer bezahlt als eine reale Behandlung.
Die Ärzte gehörten aber sicher nicht zu den größten Verlierern der Krise, sagt Brock. „Wir sollten nicht nach zwei, drei Monaten in eine Zwangslage kommen.“
Auch Uwe Brock, Vorsitzender der Mülheimer Kreisstelle der Ärztekammer und niedergelassener Facharzt für Innere Medizin, hat gerade zu Beginn der Corona-Zeit deutlich mehr Telefonate mit Patienten geführt als sie persönlich zu sehen. Etwa ein Drittel weniger Behandlungen führt er derzeit durch. „Man kann sich natürlich fragen, ob die Patienten früher zu oft in die Praxis gekommen sind oder heute zu selten“, sagt Brock. Immerhin sei Deutschland mit durchschnittlich 16 Arztbesuchen pro Jahr eine der Nationen mit den meisten Patienten.
Jedenfalls seien nie so wenige Patienten zur Behandlung gekommen wie in den vergangenen Monaten. Grund zur Ansteckungssorge gebe es in jedem Fall nicht, alle Sicherheitsvorkehrungen seien getroffen, „hier kann man sich genauso anstecken wie woanders auch“, sagt Brock. Er rechnet auch langfristig mit einer Veränderung der Patientenströme. „In den Praxen wird es im Winter nicht mehr so aussehen, wie im vergangen Jahr.“