Mülheim. Mülheimer Zeitzeugen berichten vom Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Viele Details sind ihnen im Gedächtnis geblieben – auch die Angst.
Die meisten Mülheimer hatten im April 1945 den Krieg satt. Große Teile der Stadt lagen in Schutt und Asche, die Versorgung mit Lebensmittel war karg. Die meisten Menschen hatten keine Arbeit, aber Angst vor dem nächsten Luftangriff. „Man wusste nie, wenn man aus dem Bunker kam, ob man sein Bett noch fand“, blickt Ilse Schunk zurück. Sie und die meisten anderen waren erleichtert, als am 11. April vor 75 Jahren die Amerikaner in die Stadt marschierten und sie von den Nazis befreite.
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„Wir standen am Morgen mit etwa zehn Personen am Milchwagen auf der Aktienstraße, Ecke Nordstraße. Auch im Krieg brachten die Bauern mit ihren Wagen Magermilch. Die was besser als Wasser“, erinnert sich Ilse Schunk. „Da kam plötzlich ein amerikanischer Soldat mit einer Maschinenpistole und rief ,Straße frei’. Zum ersten Mal sahen wir einen Schwarzen und staunten. Als wir nicht sofort weggingen, schoss er in die Luft.“
Nazistiefel knallten auf dem Straßenpflaster
Die damals junge Frau und die anderen am Milchwagen rannten in den nahen Bunker. Erst später wagten wir uns vorsichtig wieder heraus. Wir haben uns weiße Tücher umgebunden und konnten von der Nordstraße aus alles sehen. Gegen 8.30 Uhr liefen die Soldaten von Osten aus die Aktienstraße hinunter. Sie hatten schon leise Gummisohlen. Die knallten nicht so laut auf dem Pflaster wie die Stiefel der Nazis. Wir waren erstaunt, wie leise die US-Soldaten marschierten“, hörte die Leserin sofort den Unterschied.
Ihnen folgten Panzer und Lastwagen. Ein langer Tross zog von Essen Richtung Ruhr. „17 war ich damals. 1944 hatte ich bei Siemens eine kaufmännische Lehre begonnen. Die Lagerbuchhaltung und die Maschinenverwaltung waren nach Mintard ausgelagert. Am Akademischen Schuster hatten wir unser enges Büro. Zuerst bin ich von Broich aus mit dem Zug dort hingefahren. Als die Tiefflieger die Züge beschossen, ging das nicht mehr“, blickt Ilse Schunk zurück.
Morgens war die Kahlenbergbrücke gesprengt
Die Eisenbahnstrecke diente auch Militärtransporten, weil die großen Bahnlinien im Ruhrgebiet schon zerstört waren. Danach bin ich mit dem Fahrrad gefahren. Eines Morgens ging auch das nicht mehr, weil die Kahlbergbrücke gesprengt war. Diese sinnlose Aktion hatten deutsche Soldaten angezettelt, um den Einmarsch der alliierten Truppen aufzuhalten. Es gelang ihnen damit nicht.
„Für uns war der Krieg zum Glück am Nachmittag des 11. Aprils zu Ende. Es war ein sonniger Frühlingstag. Die jüngeren Leute können froh sein, dass ihnen diese schlimme Zeit erspart geblieben ist. Heute sollten sie alles dafür tun, dass es keinen Krieg mehr gibt“, sagt die fast 92-Jährige.
Amerikaner und Briten verhängten Ausgangssperre
Im Juni seien dann die Briten nach Mülheim gekommen. Sie hätten alles strikt organisiert. Die Befreier und Besatzer verhängten drei Jahre lang eine Ausgangssperre. Jeder musste um 22 Uhr zu Haus sein. „Es gab mächtig Ärger, wenn man danach angetroffen wurde.“ In dieser Zeit hat Ilse Schunk ihren späteren Mann kennengelernt. Sie bewundert, „wie diszipliniert die Leute heute in der Coronakrise sind“.
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„Ich war froh, dass der Krieg endlich vorbei war und wir nicht mehr in den Bunker mussten“, sagt Walter Neuhoff. „Aber ich hatte auch Angst, als ich am 11. April 1945 um 11.45 Uhr vor unserem Haus an der Tersteegenstraße die ersten schwarzen Amerikaner sah.“ Am Morgen war er noch mit seiner Mutter zum Bäcker auf die Kettwiger Straße gegangen. „Dort munkelten die Leute schon: ,Die Amerikaner kommen’.“
Alles aus dem Wohnzimmerfenster beobachtet
Zwei Tage zuvor hatte Neuhoff noch mit mit seinen Eltern Zuflucht im Bunkerstollen unter der Freilichtbühne gesucht. „Das war immer schrecklich dort. Manche zitterten vor Angst. Brennen Haus und Wohnung ab? Kinder und Frauen weinten oft.“
Aus dem Wohnzimmerfenster konnte der junge Walter Neuhoff an diesem Mittwoch beobachten, wie drei amerikanische Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag die Tersteegenstraße herunterliefen. „Kurz darauf stand ein großer Panzer oben an der Kluse und richtete sein Rohr in unsere Straße. Das sah sehr bedrohlich aus. Mein Vater wollte raus in den Garten und alles fotografieren. Aber meine Mutter konnte ihn zurückhalten. Wer weiß, was sonst passiert wäre.“
Vater konnte das Fotografieren nicht lassen
Aber Willi Neuhoff, damals bei der Reichsbahn angestellt, konnte es nicht lassen. „Ich glaube, ich habe da etwas Historisches geknipst.“ Mit diesen Worten, wie sich Neuhoff sich erinnert, kam sein Vater am 12. April 1945 von einem Zahnarztbesuch in der Innenstadt zurück. Während einer Behandlung bei seinem Zahnarzt Dr. Steil, der an der Ecke Schloßstraße/Löhberg praktizierte, sah er plötzlich amerikanische Soldaten. Er holte seine kleine Kamera aus der Tasche und fotografierte die GIs vom Fenster der Arztpraxis aus.
„Meine Mutter hat fürchterlich geschimpft, als ihr Mann von seinem Schnappschuss erzählte. Damals war es streng verboten, amerikanische Soldaten zu fotografieren“, erinnert sich Neuhoff. Erst 1948 ließ Neuhoff den Film entwickeln. Die Fotos gehören heute zum Fundus des Stadtarchivs.
„Die Befreiung tat uns damals sehr gut“
Walter Neuhoff war damals neun Jahre jung. Er saß den ganzen Tag am Fenster der guten Stube (Wohnzimmer). Eine Scheibe war beim Luftangriff an Heiligabend 1944 zersplittert. Eine Einlage aus Pappe schützte uns vor dem Wind. Ich war froh, dass ich nicht mehr in den Bunker musste. Diese Befreiung tat uns damals sehr gut.“
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Später hörte Neuhoff, dass drei amerikanische Soldaten bei einem Schusswechsel mit Männern des Volkssturms an der Kaiserstraße und am Dickwall getötet wurden. Neuhoff bestätigt, dass die Amerikaner auf leisen Sohlen unterwegs waren. „Sie hatten hohe Schnürschuhe und waren freundlich.“ Zwei Monate später übernahmen die Briten in Mülheim das Kommando.