Mülheim. Durch ständige Nähe liegen in vielen Familien und Partnerschaften die Nerven blank. Polizei verzeichnet starken Anstieg im Vergleich zum Vorjahr.

Für immer mehr Menschen wird das Zuhausebleiben in Zeiten der Corona-Krise zum Horror. Vor allem für Frauen, Kinder und Jugendliche, die von ihren Partnern oder Eltern geschlagen werden. Die Zahlen der Polizei belegen für die Städte Mülheim und Essen: Die Fälle häuslicher Gewalt sind allein in den vergangenen zwei Wochen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um das Doppelte angestiegen.

Peter Elke hat zusammen mit seinen Kollegen der Polizei Essen/Mülheim die Fall-Statistiken vom 9. bis 23. März 2020 mit denen des Vorjahreszeitraums verglichen. Und eine erschreckende Entwicklung festgestellt: "In 2019 hatten wir in diesem Zeitraum beiden Städten 30 Fälle von häuslicher Gewalt, in diesem Jahr waren es schon 60." Und das sind nur die Fälle, zu denen die Beamten ausrücken mussten. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. In den meisten Fällen sind die Täter männlich, die Opfer Frauen und Kinder.

Corona-Krise: Ängste um Geld, den Arbeitsplatz, die Gesundheit

Gerade in der Corona-Krise spielten Ängste um Geld oder den Arbeitsplatz eine große Rolle, weiß Peter Elke. Häufig kommen zudem Drogen und Alkohol ins Spiel, was wiederum die Gewalt fördere. Diese Entwicklung sei jedoch nur eine Momentaufnahme und könne sich jederzeit nach oben oder unten verändern. "Zum Glück scheint zur Zeit die Sonne", meint Elke. "Würde es regnen, wäre die Situation sicher noch viel schlimmer."

In den meisten Fällen, zu denen die Polizei ausrückt, wird der Aggressor für zehn Tage der Wohnung verwiesen. Dieser muss sich dann selbst darum kümmern, wo er unterkommt. "Nach einer solchen Wegweisung kontrollieren wir regelmäßig, ob sich der Täter auch wirklich von der Wohnung fern hält." In extremen Fällen können die Beamten den Täter auch ins Gewahrsam nehmen. Zudem besteht die Möglichkeit, die Wegweisung nach zehn Tagen weiter zu verlängern.

Durch die ständige Nähe liegen die Nerven blank

„Selbst in Familien mit bisher unauffälligem Verhalten können die Nerven durch die ständige Nähe, fehlende Alltagsroutine und Entlastung über Kitas/Schulen irgendwann ,blank liegen‘ und zu Gewalthandlungen führen“, weiß Sabine Boeger. Die Diplompädagogin ist bei der Ev. Beratungsstelle für Schwangerschaftskonflikte Ansprechpartnerin für hilfesuchende Frauen.

Erziehungswissenschaftlerin Anna Arndt kommt in ihrer Arbeit bei der Jugend- und Familienhilfe des Diakonischen Werkes (DW) regelmäßig in Familien, in denen es Konflikt- und Gewaltpotenzial gibt. Sie und ihre Kollegen stehen „mit den Familien regelmäßig in Kontakt und bekommen so mit, wie es ihnen gerade geht“, so Anna Arndt. Sie weiß: „Besonders für die Kinder, die sonst durch Kita oder Schule betreut werden, fällt nun eine sichere Umgebung weg.“

Die Jugend- und Familienhilfe des DW arbeitet im engen Austausch mit dem Kommunalen Sozialen Dienst der Stadt Mülheim, anderen Beratungsstellen und dem Frauenhaus zusammen. Zu den Familien, bei denen man bereits weiß, dass häusliche Gewalt ein Thema ist, wird trotz der aktuellen Corona-Situation enger – und weiterhin persönlicher – Kontakt gehalten. "Wir sind telefonisch erreichbar und ermöglichen in besonderen Einzelfällen persönliche Beratungsgespräche“, betont Sabine Boeger. Natürlich unter strengen Hygieneauflagen. Doch dürfe der Opferschutz auch in solchen Zeiten nicht zurückstehen.

Zunehmende Anfragen bei der Frauenberatungsstelle

Auch die Fachfrauen der Frauenberatungsstelle, die der Trägerverein "Hilfe für Frauen" neben dem Mülheimer Frauenhaus betreibt, verzeichnen derzeit zunehmenden Beratungsbedarf. Daher haben sie bereits ihre Sprechzeiten ausgeweitet.

Gülsüm Erden, Leiterin des Frauenhauses, und Annette Lostermann-De Nil, Vorsitzende des Trägervereins, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Schutzeinrichtung an anonymer Stelle im Stadtgebiet weiterhin geöffnet hat. "Alleine im Monat März hat das Frauenhaus zehn Frauen und 20 Kinder aufgenommen, beraten und begleitet." Der Alltag der Frauen laufe auch dort mit Einschränkungen, denn es ziehen immer wieder neue Frauen ein und aus. Doch die Hygienemaßnahmen können eingehalten werden, so dass "derzeit alle gesund sind", freut sich Gülsüm Erden.

Gerade in der aktuellen Situation rät die Fachfrau vielen Frauen, nicht selbst die Wohnung zu verlassen, sondern die 110 zu wählen und die Polizei um Hilfe zu bitten, den Täter aus der Wohnung zu verweisen. Das entlastet nicht nur die Frauenhäuser, die ohnehin stets an Kapazitätsgrenzen arbeiten, sondern vor allem die Frauen selbst. Im Gespräch können Beraterinnen und Betroffene aber immer individuell nach Lösungen suchen. Gewalt muss nie erduldet werden - ein Anruf ist der erste Schritt in die Sicherheit.

INFO:

- Die Mitarbeiterinnen in der Frauenberatungsstelle sind für von Gewalt betroffene Frauen unter der Rufnummer 0208 3056823 erreichbar (auch auf AB sprechen). Das Frauenhaus ist unter 0208 - 99 70 86 montags bis donnerstags von 7.15 Uhr bis 16 Uhr und freitags bis 14 Uhr erreichbar. Ein bundesweites Hilfetelefon ist rund um die Uhr besetzt, Tel.: 08000 - 116 016, www.hilfetelefon.de

- Die Fachkräfte des Diakonischen Werkes beraten auch in der Corona-Krise weiter. Die Telefonzentrale ist täglich erreichbar, Tel.: 0208 / 3003 277, diakonie@diakonie-muelheim.de, zu den Öffnungszeiten von 7.30 bis 16.30 Uhr sowie mittwochs von 7.30 bis 13.00 Uhr.