Mülheim. Kunstmeile an der Schloßstraße eröffnet am 2. Advent. Der Brückenschlag der Werke von heute und einst ist gelungen – weniger die Präsentation.

Wenn die Menschen nicht zur Kunst kommen können, weil elementare Einrichtungen wie das Kunstmuseum generalüberholt werden, muss Kultur manchmal ungewöhnliche Wege beschreiten. Die am Sonntag eröffnende „90 Jahre Jahresausstellung“ hat diesen Versuch unternommen, nicht nur eine Brücke zwischen Mülheimer Künstlern von damals und heute zu schlagen, sondern notbedingt gleich auch eine zwischen Kunst und Kommerz. Das eine ist zweifelsfrei gelungen.

Kunst der Gegenwart schlägt den Bogen zu Mülheimer ‘Klassikern’

Das andere ist mutig, aber durchaus streitbar. Unter den 23 Künstlern, die vor 90 Jahren die erste Jahresausstellung im städtischen Museum an der Teinerstraße 69 bestritten, hat die Arbeitsgemeinschaft Mülheimer Künstlerinnen und Künstler 13 ausgewählt. Und sie mit Arbeiten zeitgenössischer Kunstschaffenden in den Ladenschaufenstern der Schloßstraße kontrastiert.

Zeitgenössische Künstler wie (v.l.) Wulf Golz, Heiner Schmitz, Ursula Vehar, Jochen Leyendecker, Barbara Adamek, Helmut Koch, Imre Vidék und Peter Helmke haben sich mit Künstlern der ersten Jahresausstellung von 1929 auseinandergesetzt.
Zeitgenössische Künstler wie (v.l.) Wulf Golz, Heiner Schmitz, Ursula Vehar, Jochen Leyendecker, Barbara Adamek, Helmut Koch, Imre Vidék und Peter Helmke haben sich mit Künstlern der ersten Jahresausstellung von 1929 auseinandergesetzt. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die Paarungen haben es im positiven Sinne in sich: So stellt der Fotograf Heiner neben Arthur Kaufmanns eindringliches Triptychon „Geistige Emigration“ (1938-64) provokant ein aktuelles Foto einer Beduinenfamilie (Hassans Familie) daneben. Und stellt damit nachdenkenswerte Bezüge her zwischen der Flucht im Nationalsozialismus und heutigen Flüchtlingsbewegungen.

Spitze gegen twitternde Staatsoberhäupter

„Nach allen Regeln der Kunst, aber arisch korrekt?“, schießt Bildhauer-Rebell Jochen Leyendecker eine Spitze ab mit seiner Anatomiestudie als Betonguss von 1989. Und kontrastiert sie mit einem Muschelkalk-Relief von Grete Schick (1930), die am Haupteingang der ehemaligen Mädchenschule Stadtmitte zu finden ist.

Willi Deus’ „Junge mit Schwan“ (1938) scheint Helmut Koch mit einem „Weißkopfseeadler-Rodeo“ (2019) und Jungen mit auffälliger Frisur auf das Demokratieverständnis twitternder Staatsoberhäupter zuzuspitzen: „Ich versuche, die expressive Wucht aufzugreifen, die Willy Deus durch die brachiale Gewalt erzeugt, mit der der Reiter den Schwan traktiert“, erläutert Koch.

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Peter Helmke fühlt sich beim Betrachten der „Zirkusszene“ von Hermann Hundt (1925) ganz offenkundig „Auf den Hund(t) gekommen“. Und Uwe Dieter Bleil interpretiert „Musik“ von Werner Gilles (1928) – eine Szene zwischen Traum und Totenreich – modern als schlummernden Jugendlichen mit Dreadlocks, Kopfhörer und schwebender E-Gitarre über dem Kopf statt einer Lyra. Nicht alle Bezüge an den 13 Stationen der von der Konsum- nun zur „Kunstmeile“ erklärten Schloßstraße sind politisch oder kommentierend zu verstehen.

Streitbarer Umgang des Konsums mit dem Aushängeschild ‘Kunst’

Kunstmeile eröffnet am Sonntag um 11 Uhr

Die Kunstmeile an der Schloßstraße eröffnet am Sonntag, 8. Dezember, um 11 Uhr mit einem Rundgang. Galerist Gerold d’Hamé spricht dazu einleitende Worte. Der Rundgang beginnt vor dem Hotel Noy an der Schloßstraße 30. Sie endet mit einem Besuch der Jahresausstellung im Museum Temporär an der Schloßstraße 28.

Die „90 Jahre Jahresausstellung“ ist bis zum 31. Dezember zu sehen. Weitere Rundgänge sind am 15., 22. und 29 Dezember geplant. Beginn jeweils um 11 Uhr vor dem Hotel Noy.

Infos zur ersten Jahresausstellung von 1929 gibt die Stadt: www.muelheim-ruhr.de/cms/das_muelheimer_zeitzeichen_8_dezember_1929.html

Die Art der „Hängung“ im öffentlichen Raum allerdings weiß durchaus auf ungeplante Art zu provozieren. Lieblos darf sich etwa Lickfelds Bogenschütze den Platz mit Werbeplakaten teilen. Die Aufschrift „Maximale Freiheit, keine Kosten“ darf man der Freud’schen Fehlleistung oder dem neoliberalen Zeitgeist zuschlagen. Anderswo tummeln sich Taschen und Angebote zwischen den messerscharfen Beobachtungen des Alltag eines Hermann Haber (1929) und den „Visionen“ von Imre Vidék (1949).

So freundlich es scheint, dass Ladenlokale ihre Werbeflächen vor dem wichtigen Weihnachtsgeschäft für die Kunst öffnen, so wenig sensibel ist dagegen mancher Umgang mit den Werken: an die Seite gestellt, gequetscht. Von Werbetreibenden darf man mehr Professionalität erwarten, die Kunst auch als Aushängeschild zu verstehen. Noch besteht die Chance bis zur offiziellen Eröffnung der Kunstmeile, die Platzierung zu überdenken.