Mülheim. „Boat Memory“ erzählt mit Textfragmenten und Gedichten von Menschen, die sich mit Hoffnungen nach Europa aufmachen. Und wie sich die EU verändert
Es war eines der erschreckendsten Ereignisse der Flüchtlingsgeschichte: Mehr als 900 Menschen kenterten 2015 in einem überfrachteten Fischerboot vor Sizilien und ertranken. Unter ihnen ein 15 Jahre alter Junge, sein Schulzeugnis in Plastik in der Weste eingenäht, keine Drogen, wie man erst unterstellte. „Er hatte die Hoffnung, in Europa damit eine Zukunft zu finden“, greift Roberto Ciulli das Ereignis als Ausgangspunkt seines neuen Stücks auf: Boat Memory.
Roberto Ciulli ist rechten Umbrüchen auf der Spur, nicht nur in Italien
Was hat sich bloß getan in diesem Europa? Der anfänglichen Euphorie der Willkommenskultur und Empathie schlägt heute Hass und Rassismus entgegen. Ciulli ist dem Umbruch auf der Spur, fängt aber nicht im Heute an, sondern im Italien von 2015. Die Forensikerin Cristina Cattaneo versucht zu dieser Zeit, die ertrunkenen Menschen zu bergen, zu identifizieren, „um ihnen ein Stück Würde zurückzugeben – ein Signal der Humanität“, schildert der Chef am Theater an der Ruhr.
Aber auch eine monströse Aufgabe, die Identität der nach Monaten durch das Wasser stark zerstörten Körper zu rekonstruieren. In „Schiffbrüchige ohne Gesicht“ schrieb Cattaneo dies auf. Die Forensikerin als edle Heldin angesichts einer menschlichen Tragödie. Doch die große Empathie der Italiener beginnt mit dem Aufstieg Salvinis zu bröckeln, sogar umzuschlagen. Plötzlich war das humane Handeln ein „Skandal. Plötzlich spielten die Kosten für das Projekt eine Rolle. Man sieht hier, wie die Propaganda der Rechten wirkte“, so Ciulli.
Boat Memory: Theater-Collage, die Raum für Neugier und Fragen der Zuschauer lässt
,Boat Memory’ verarbeitet Cattaneos Aufzeichnungen, bleibt aber nicht dabei, sondern kombiniert diese mit weiteren Text-Fragmenten etwa aus „Rumore di Acqua“ von Marco Martinelli, des marokkanischen Autors Youssouf Amine Elalamy, mit afrikanischer Lyrik von Zakes Mda, Tanure Ojaide, „und einem ,Überraschungstext“, lässt der TAR-Chef in seiner Theater-Collage Zwischenräume für die Fragen des Zuschauers. Und die Neugier.
TAR-Dramaturg Helmut Schäfer knüpft die Fragmente an aktuelle Entwicklungen nicht nur in Italien: „Die Situation dort ist zur Zeit noch schärfer als hier, weil es offene Faschisten gibt. In Deutschland versuchen diese noch, sich ein bürgerliches Gewand zu geben.“ Und doch sehen Schäfer wie Ciulli mit Sorge auf die sprachliche Verrohung hierzulande: „Erst kam die Sprache, dann die Taten“, mahnt Ciulli.
Was sind die Ursachen für den Rechtsruck in Europa und anderswo?
Premiere am Freitag, 13. Dezember, im TAR
„Boat Memory“ feiert Premiere am Freitag, 13. Dezember, um 19.30 Uhr am Theater an der Ruhr, Akazienallee 61. Weitere Aufführungen im Dezember am Sonntag, 15.12., 18 Uhr, sowie am Donnerstag, 19.12., 19.30 Uhr. Karten ab 28 Euro.
Weiteres Rahmenprogramm zum Stück: Filmvorführung „Mare Nostrum“ am Freitag, 6.12., 19.30 Uhr. Geschichten über das Mittelmeer mit dem Künstlerkollektiv Ma’louba am Samstag, 7.12., 19.30 Uhr. Matinée „Boat Memory“ mit Roberto Ciulli und Helmut Schäfer am Sonntag, 8.12., 12 Uhr.
Info und Karten zum Programm: www.theater-an-der-ruhr.de
Für Schäfer ist zum einen deutlich: Der Rechtsruck ist eine Antwort auf eine neoliberale Politik, eine Welt, die abstrakter vor allem in der Kommunikation und Ökonomie wird, Kapitalströme entfesselt hat und über Facebook kommuniziert. Im Gegenzug – so scheint es – werden Begriffe wie Heimat politisiert, dienen der Ausgrenzung. Zum anderen gehen Soziologen davon aus, dass es seit den 1950er Jahren einen unterschwelligen aber wohl stabilen Anteil an rechter bis rechtsextremer Gesinnung in der deutschen Gesellschaft gegeben hat – ein fruchtbarer Boden für Populisten.
Wie das Ensemble um Ciulli und auch Maria Neumann das hochkomplexe und fragmenthafte Boat Memory zu einem Theaterstück zusammensetzen werden? Vielleicht wie ein Memory-Puzzle, das der Titel zu beschwören scheint. „Es macht keinen Sinn, diese Geschichte dokumentarisch zu erzählen. Es geht nur mit den Mitteln der Kunst, das Unsagbare sagbar zu machen“, ist Ciulli überzeugt.