Mülheim. 30 Jahre nach dem Mauerfall trafen in einer Mülheimer Buchhandlung zwei Menschen zusammen: Der eine floh aus der DDR, die andere reiste hin.

30 Jahre nach dem Mauerfall richteten die beiden Mülheimer Jutta Loose (70) und Dieter Schilling (80) als Autoren der örtlichen Zeitzeugenbörse ihren ganz eigenen Blick auf die DDR und das SED-Regime. Eine gut besuchte Lesung in der Buchhandlung am Löhberg zeigte, dass die Wiedervereinigung Deutschlands allen aktuellen Herausforderungen zum Trotz ein Glücksfall der Geschichte war.

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Es waren zwei sehr unterschiedliche Perspektiven, die Jutta Loose und Dieter Schilling ihren interessierten Zuhörern eröffneten. Loose schaute von außen auf die DDR, mit der sie durch die Familie ihres Mannes verbunden war. Sie berichtete zum Beispiel vom schauderhaften Besuch an der innerdeutschen Grenze, an der sie unter anderem die Selbstschussanlagen entdeckte, die sogenannte Republikflüchtlinge töten sollten.

Jutta Loose: Wir sprachen auf Augenhöhe miteinander

Sie erzählte von Lebensmittelpaketen an die Verwandtschaft in Meißen, von fingierten Todesnachrichten der DDR-Staatssicherheit, von ruinenhaft heruntergekommenen und trotzdem noch bewohnten Häusern im Ostteil Berlins und davon, dass ihr Schwiegervater als Angehöriger der Bundeswehr seine Eltern in der DDR nicht besuchen konnte und auch an ihrer Beerdigung nicht teilnehmen durfte.

Die Lesung in der Buchhandlung am Löhberg, von der Mülheimer Zeitzeugenbörse organisiert, stieß auf reges Besucherinteresse.
Die Lesung in der Buchhandlung am Löhberg, von der Mülheimer Zeitzeugenbörse organisiert, stieß auf reges Besucherinteresse. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Loose schilderte aber auch ihre positiven Erfahrungen, die sie mit den Menschen in Ostdeutschland und mit den sich nach der Wiedervereinigung angleichenden Lebensverhältnissen machen konnte. Loose: „Wir haben uns gut verstanden, weil wir auf Augenhöhe miteinander sprachen, uns füreinander interessierten und über dieselben Dinge lachen konnten.“

Bevollmächtigter der Staatssicherheit gehörte zu den Kollegen

Als in Halle an der Saale geborener und später dort als Ingenieur für das Zentralinstitut für Schweißtechnik tätiger Ingenieur lieferte Dieter Schilling eine bemerkenswerte Innenansicht der DDR, in der ganz selbstverständlich auch ein Bevollmächtigter der Staatssicherheit zu seinen Kollegen gehörte. Der achtete nicht nur darauf, dass nur ja keine Betriebsgeheimnisse in die Hände des Klassenfeindes gerieten, sondern forderte auch Berichte über Kollegen an.

DDR-Flüchtlinge kamen in den 1950ern in Saarn unter

Allein bis zum Mauerbau am 13. August 1961 verließen mehr als zwei Millionen Menschen die DDR und sorgten damit dort für einen existenzgefährdenden Fachkräftemangel.

In Mülheim bemühten sich unter anderem der Saarner Pastor Ewald Luhr und seine Frau Luise während der 1950er Jahre um DDR-Flüchtlinge, die unter anderem in einem Übergangswohnheim an der Düsseldorfer Straße untergebracht wurden.

Die in den 1960er Jahren begonnene Ostpolitik erleichterte den deutsch-deutschen Reiseverkehr vor allem für Rentner. Der Mit-Initiator der Mülheimer Zeitzeugenbörse, Ralf Zabelberg, wies darauf hin, dass die zehn Milliarden D-Mark, die die Bundesrepublik jährlich als Transitgebühren an die DDR zahlte, eine wichtige Deviseneinnahme für den SED-Staat darstellte.

Mehr Informationen zur Mülheimer Zeitzeugenbörse gibt es unter zeitzeugenboerse@gmx.de und https://unser-quartier.de/zzb-muelheim/startseite/

„Als Ingenieur gehörte ich an unserem Institut zu den sogenannten Reisekadern, die in die Bundesrepublik und ins westliche Ausland reisen durften, was bei vielen meiner Nachbarn und Kollegen leider Misstrauen erweckte und mich in ihren Augen verdächtig machte“, erinnert sich Schilling, der selbst natürlich auch von der Staatssicherheit überprüft wurde.

Ein politischer Witz über die DDR kostete Kollegen den Job

Unvergessen bleibt ihm ein Institutskollege, der seinen Arbeitsplatz verlor, weil die Stasi von einem ihrer westdeutschen Spitzel erfahren hatte, dass dieser Kollege bei einem dienstlichen Besuch in der Bundesrepublik einen politischen Witz über die DDR-Führung erzählt hatte. Erschreckend war auch sein Bericht darüber, dass in dem von Staats wegen atheistischen SED-Staat keine Kirchenmitglieder zum Studium zugelassen wurden.

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Die von Jutta Loose geschilderten heruntergekommenen und eigentlich unbewohnbaren Häuser in Ost-Berlin und in anderen Städten der DDR erklärte Schilling mit dem staatlichen Mietdiktat. „Ich habe Ende der 1960er Jahre für eine 80 Quadratmeter große Wohnung nur 88 Mark Miete bezahlt. Aber das führte eben auch dazu, dass Hauseigentümer keine Gewinne erwirtschaften und diese in die Renovierung ihrer Immobilien investieren konnten.“

Schilling floh 1982 nach Westdeutschland

Und so flohen auch Schilling und seine Frau 1982 aus der DDR nach Westdeutschland, weil sie die Misswirtschaft in der DDR nicht mehr aushielten. „Denn dort war das Geld nichts mehr wert und die Versorgung mit fast allen Konsumgütern allein von persönlichen Beziehungen abhängig“, erinnert sich Zeitzeuge Dieter Schilling.