Mülheim. Der Mülheimer Buchhändler Michael Fehst ist in der DDR geboren. Er sorgt sich um die soziale Spaltung Deutschlands und den Populismus der AfD.
Michael Fehst wurde 1964 in Wittenberg in der DDR geboren. Thomas Emons sprach mit dem Buchhändler über die Bedeutung des Tags der deutschen Einheit und die gesellschaftliche Spaltung im wiedervereinten Deutschland.
Was feiern Sie als Wittenberger in Mülheim am Tag der Deutschen Einheit?
Michael Fehst: Ich tue mich mit dem Begriff „feiern“ schwer. Für mich ist es eher ein Gedenktag, für das, was sich mit der Wiedervereinigung auch in meinem Leben verändert hat und die Chancen, die ich bekommen und genutzt habe. Ich bin dankbar für meine persönliche Entwicklung und für die Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützt haben.
Wenn Sie wie Heinrich Heine an Deutschland in der Nacht denken…
… dann bin ich nicht um den Schlaf gebracht, weil ich glaube, dass Deutschland eine starke Demokratie ist, die trotz aller Probleme bestehen wird, wenn alle kreativen und gutwilligen Menschen ihre Freiheit nutzen, um unser Land menschenfreundlich zu gestalten. Aber ich sehe einige Entwicklungen in unserem Land auch mit großer Sorge.
Die Probleme der Menschen in strukturschwachen Regionen anhören
Welche?
Sowohl in Ostdeutschland als auch hier im Ruhrgebiet sehe und erlebe ich Menschen, die latent aggressiv sind, weil sie sich als zu kurz gekommen und als sozial abgehängt erleben und deshalb zum Teil Nationalisten und Populisten wählen.
Was würden Sie Frau Merkel raten, um die deutsche Einheit zu vollenden und die gesellschaftliche Spaltung im wiedervereinten Deutschland zu überwinden?
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Angela Merkel und die demokratischen Volksparteien dürfen das Feld nicht der AfD überlassen. Sie müssen gerade zu den Menschen gehen, die in strukturschwachen Regionen wie im Osten Sachsens oder im Ruhrgebiet leben und sich ihre Probleme anhören. Nur so können sie ein Gespür dafür bekommen, was getan werden muss, um die soziale Spaltung in unserem Land zu überwinden. Nur wenn die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Biografie respektiert und ihre Probleme gehört werden, werden sie auch wieder Vertrauen in die Demokratie und ihre Volksparteien gewinnen.
Keine Zeit, sich an den Kapitalismus zu gewöhnen
Sind wir 30 Jahre nach dem Mauerfall und 29 Jahre nach der Wiedervereinigung ein Volk von Jammer-Ossis und Besser-Wessis?
Wir sollten uns auf jeden Fall nicht alle über einen Kamm scheren. Wir müssen anerkennen, was in den letzten 30 Jahren auch mit Hilfe von Michail Gorbatschow gut gelaufen ist, dass aber auch vieles falsch gelaufen ist. Ich habe es in Wittenberg selbst erleben müssen, wie wirtschaftlich leistungsfähige Betriebe von der Treuhandanstalt platt gemacht wurden und viele Menschen von heute auf morgen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Da gab es viele Brüche.
Neues Berufsleben als Buchhändler
Michael Fehst arbeitete in seinem ersten Berufsleben als Koch in einem Seniorenheim. Entgegen seiner ursprünglichen Lebensplanung ging er 1998 ins Ruhrgebiet, „weil es in meinem alten Beruf für mich nicht weiterging und ich feststeckte und ich sicher unglücklich geworden wäre, wenn ich damals nicht den Aufbruch in ein neues Berufsleben als Buchhändler gewagt hätte“.
Nach seiner zweiten Berufsausbildung in einer Essener Buchhandlung und einer anschließenden Buchhändlertätigkeit im Angestelltenverhältnis, wagte er 2010 mit seiner Buchhandlung am Löhberg 4 den Sprung in die berufliche Selbstständigkeit und hat dies bisher nicht bereut.
Die Menschen im Osten Deutschlands, die daran gewohnt waren, vom Staat rundum versorgt zu werden, hatten keine Zeit, sich an den Kapitalismus zu gewöhnen. Im Westen hat man aber auch viel für den Um- und Wiederaufbau im Osten Deutschlands getan. Man sollte aber auch hier im Westen Deutschlands nicht vergessen, dass der Solildaritätszuschlag für den Aufbau Ost von allen Deutschen gezahlt worden ist.
Was bleibt für Sie auf der Haben-Seite der deutschen Einheit?
Die Freiheit für alle Deutschen, zu reisen, angstfrei ihre Meinung zu sagen und zwischen politischen Alternativen wählen zu können. Eine Ironie der Geschichte ist es in meinen Augen, dass man die flächendeckende Versorgung mit Kindertagesstätten-Plätzen und die steuerfinanzierte medizinische Grundversorgung durch Polykliniken wie es sie in der ehemaligen DDR gab, nach der Wiedervereinigung abgeschafft hat und heute in Form von Kindertagesstätten und Ärztehäusern wieder neu erfunden hat.