Mülheim. Warum Theater-Macher Roberto Ciulli sich über den Faust-Preis fürs Lebenswerk freut, aber auch Melancholie mitschwingt – und ein Hauch Ironie.
Er hat das politische Theater in Deutschland und darüber hinaus 40 Jahre lang maßgeblich geprägt. Jetzt erhält Roberto Ciulli, künstlerischer Leiter des Theater an der Ruhr, den Faust-Theaterpreis des Deutschen Bühnenvereins für sein Lebenswerk. Warum der Preis für Ciulli eine Ehre ist – und ihn dennoch schmunzeln lässt.
Herr Ciulli, Sie haben etliche Preise und viel Anerkennung bekommen – freut Sie der Faust-Preis noch?
Roberto Ciulli: Ja, natürlich. Das ist eine große Anerkennung.
Was macht ihn so besonders?
Sie müssen sehen: Als wir damals das Theater an der Ruhr gegründet haben, war das nur möglich, weil wir aus den Tarifverträgen und damit aus Bühnenverein und Arbeitnehmerverband ausgestiegen sind. Wir haben uns damals mit ,unserer Gruppe’ – Schauspielern, Technikern, Verwaltung – an einem Tisch getroffen und alles in Frage gestellt, was uns in den Tarifarbeitsverträgen unsinnig erschien. Wir wollten zum Beispiel keine Unterschiede zwischen den Mitarbeitern des Theaters.
Wie ist das damals aufgenommen worden?
Ich wurde in der Gewerkschaftszeitung betitelt mit „das Ciulli-Syndrom“. Man glaubte, ich würde die Mitarbeiter am Theater ausbeuten. Man hat nicht verstanden, dass wir damals eine neue Struktur schaffen wollten und als Erste das freie Theater bei einer Stadt institutionalisiert haben, ohne ein Stadttheater sein zu wollen. Bis heute sind wir das Theater an der Ruhr – nicht das Stadttheater Mülheim.
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Nach 40 Jahren bekomme ich also den Preis genau von der Institution, aus der ich damals rausgegangen bin. Es für mich daher große Freude, aber der Begriff ,Lebenswerk’ bringt auch etwas Trauer – Melancholie. Ich setze das in ein Bild: Ich sehe mich wie in einer Straßenbahn, ich fahre, schlafe etwas, dann stößt mich der Kontrolleur an: „Capolinea“ – Endstation. Meine Reise ist aber noch nicht am Ende.
Sie sind für ein Theater geehrt worden, das für eine „offene Gesellschaft“ steht – was bedeutet das?
Eine offene Gesellschaft ist für mich eine, die immer auf Reisen ist, aber nicht versucht, dasselbe zu finden, das man schon zuhause hat.
Das alles steckt im Theater an der Ruhr, angefangen mit meiner persönlichen Geschichte: Ich kann nicht viel anfangen mit Begriffen wie ,Heimat’, ich fühle mich immer fremd – das heißt: Ich kultiviere diese Fremdheit, sie ist für mich etwas Positives. Erst die Fremde gibt uns den kritischen Blick auf uns selbst. Ich sage deshalb: ,Willkommen in der Fremde’ – jeder Mensch hat die Aufgabe, die Fremde in sich wachsen zu lassen.
Welche Rolle spielt darin das Theater?
Ich habe Philosophie studiert, nicht Theater. Mein Interesse am Theater war also immer soziopolitisch. Es ist die wichtigste Kunst in der Gesellschaft, um sie zu verändern.
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Immer wieder wird in Mülheim der Vorwurf laut, das TAR mache ein elitäres Theater – ist das ein Widerspruch?
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Ich glaube, dass das Bild nicht stimmt. Es gab von Anfang an die Anerkennung für das Theater, es gibt viele, die bis heute zum Theater stehen. Während viele, die gegen das Theater sprechen, nie das TAR besucht haben. Dahinter stehen ökonomische und politische Interessen. Aber: Das Theater hat Mülheim weltweit in aller Munde gebracht. Würde man das TAR als Werbung quantifizieren, könnte man das nicht bezahlen.
Wenn die Reise noch nicht zu Ende ist, werfen wir doch einen Blick in die Zukunft. Was wünschen Sie der Theaterlandschaft?
Werk über Ciulli erscheint im Dezember
Der Faust wird vergeben vom Deutschen Bühnenverein, der Kulturstiftung der Länder sowie der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste.
Im Dezember soll ein 1000-seitiges Werk über Roberto Ciulli im Alexander Verlag Berlin erscheinen. Titel: Roberto Ciulli – Der fremde Blick. Texte , Gespräche, Material 1934-2019. Voraussichtlicher Preis: 25 Euro.
Wir haben 1983 als Erste ein internationales Theater aus Überzeugung gemacht. Ich habe 42 Länder mit dem Theater bereist. Heute machen viele internationale Theaterarbeit, weil sie gefördert wird und ein positives Image hat. Ich würde mir wünschen, wenn das Besondere dieses Theaters nicht verloren geht und sich nicht anpasst an die Welt der Ökonomisierung. Wir sind nicht für Konsum, für Effizienz, sondern für Langsamkeit und Nachhaltigkeit. Wir wollen das Publikum nicht unterhalten – aber mit Rätseln ,über-halten’. Das ist nicht elitär, Rätsel muss eine Gesellschaft aushalten. Mit Rätseln fängt Kultur an.