Der Mülheimer Ortsbürgermeister Czeczatka-Simon spricht im Interview über den Stadtteil Styrum, den er trotz vieler Probleme auf gutem Weg sieht.

Herr Czeczatka-Simon, als Bezirksbürgermeister werden Sie wahrgenommen haben, dass sich insbesondere in den vergangenen Wochen große Unzufriedenheit Luft gemacht hat zu den Lebensbedingungen in einem Stadtteil wie Styrum, wo viele Menschen am Rande der Armut leben, sich abgehängt fühlen, über Unsicherheit und Respektlosigkeit im Alltag klagen.

Bezirksvertretung und die Bürger sollten viel häufiger zu Gesprächen zusammenkommen, um über die Probleme vor Ort zu sprechen. Wir wollen ja mit den Menschen im Gespräch sein.

Die EU-Wahl zuletzt hat aber noch einmal gezeigt, dass viele Bürger mit den Parteien, die die Politik auch vor Ort über Jahrzehnte gestaltet haben, nichts mehr anfangen können. Nicht wenige verweigern Ihnen das Gespräch.

Die Unzufriedenheit ist groß, ja. Ein Telefon funktioniert aber in beide Richtungen. Sei es, wenn Menschen eine bezahlbare Wohnung suchen. Sei es, dass vom Geld nichts mehr übrig ist für die letzte Woche des Monats: Es gibt die Möglichkeit, den Menschen über kirchliche oder karitative, aber auch über die sozialen Anlaufstellen der Stadtverwaltung zu helfen. Wir Bezirkspolitiker sind da auch ansprechbar.

Neben der Stadtmitte und Eppinghofen ist Styrum ein Stadtteil mit ausgewachsener sozialer Schieflage. Haben Stadtverwaltung und Politik zu wenig unternommen, um die Entwicklung zu stoppen?

Wir als Politik haben in den vergangenen Jahren Projekte beschlossen, über die mehr als 50 Millionen Euro in den Stadtteil geflossen sind. Wir haben hier jetzt ein ganz besonderes Bildungskonzept. Die Willy-Brandt-Schule ist ausgebaut, der Offene Ganztag ebenso. Der Ausbau der beiden Grundschulen ist auf den Weg gebracht. Dazu haben wir den Sport- und Bewegungspark geplant.

Allein letzteres Beispiel zeigt, dass man im Zusammenwirken mit Vereinen, Schulen, weiteren Projektbeteiligten und Bürgern etwas Gutes auf die Beine stellen kann. Jetzt ist es mein Wunsch, für den Sportpark noch einen Förderverein zu gründen, um eine soziale Kontrolle im Park zu bekommen.

Zur Person

Heinz-Werner Czeczatka-Simon (61), stammt gebürtig aus Saarn. Seit 1981 lebt er in Styrum. Der Diplom-Verwaltungswirt im Ruhestand ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Lange Jahre wirkt der SPD-Kommunalpolitiker in der Bezirksvertretung 2 mit. Er war Chef der dortigen SPD-Fraktion, bevor er dann vor fünf Jahren zum Bezirksbürgermeister gewählt worden ist.

Mit einer Bürgerbeteiligung wie zuletzt bei der Planung des Sportparks alleine scheint die Barriere zu vielen Bürgern aber nicht eingerissen zu sein.

Es sind immer mehr Bürger, die die Bürgerversammlungen von Verwaltung und Politik besuchen. Aber es nehmen immer noch zu Wenige die Möglichkeit wahr, sich zu informieren, sich einzubringen und auszutauschen. Meine politische Tätigkeit hat angefangen in einer Bürgerinitiative. Das sind wichtige Einrichtungen, um eine Meinung zu transportieren, die meisten Bürgerinitiativen haben aber ein Problem: Sie fokussieren sich auf eine Sache, sind nicht dauerhaft angelegt, um sich mit Politik auszutauschen. Der Austausch mit den Bürgern muss dann stattfinden, wenn eine Idee kreiert wird, nicht erst nachher.

Vor zwei Wochen kam es nach einer Mahnwache auf dem Rathausmarkt, die von rechten Bündnissen organisiert worden war, zu einem „Spaziergang“ in Styrum, bei dem laut Polizei zahlreiche, auch überregional angereiste Personen aus dem rechten Spektrum zugegen waren. Die Polizei stoppte die Gruppe mit mehr als 70 Personen, als sie sich auf das Wohnhaus des 14-jährigen Hauptverdächtigen der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung Anfang Juli zubewegt hatte. Droht im Stadtteil etwas außer Kontrolle zu geraten?

Was genau Anfang Juli passiert ist, wird noch ermittelt. Ich bin selbst ehrenamtlicher Richter am Jugendschöffengericht und sage: Es ist richtig, dass die Ermittlungsbehörden hier behutsam vorgehen. Der Jugendschutz findet seinen Sinn darin, in Ruhe und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu ermitteln. Es darf nicht passieren, dass sich schon früh eine Meinung bildet aufgrund von Spekulationen und so Leute von ganz Rechtsaußen die aufgestaute Wut nutzen, um Krawall zu schüren.

Eine gewisse Ellenbogenmentalität und Rücksichtslosigkeit

Die Bürgerschaft sollte sich die Frage stellen, ob sie bei der brauen Brut mitmarschieren will oder sie es lieber lässt. Natürlich wünsche ich mir, dass das Verfahren gegen die strafmündigen Jugendlichen schnell abgeschlossen wird. Wir werden aufgrund des Jugendschutzes aber nicht erfahren, was da tatsächlich passiert ist. Da sollte man den Ermittlungsbehörden aber vertrauen.

Bezirksbürgermeistermeister Heinz-Werner Czeczatka-Simon.
Bezirksbürgermeistermeister Heinz-Werner Czeczatka-Simon. © FUNKE Foto Services | DANIEL ELKE

Ich war bei einer dieser Mahnwachen auf dem Rathausmarkt, wurde beständig beschimpft, ein Gespräch mit den wütenden Frauen in Gelbwesten kam kaum zustande. Hat unsere Gesellschaft es verlernt, miteinander im Gespräch zu bleiben, auch wenn die Meinungen auseinandergehen?

Eine gewisse Ellenbogenmentalität und Rücksichtslosigkeit ist zu erkennen. Das fängt ja schon beim Konflikt von Auto- und Radfahrern an. Oder: Jeder ärgert sich über falsch parkende Autos vor der eigenen Haustür. Aber wie verhalten sich diese Menschen, wenn sie woanders parken?

Es muss sich jeder an die eigene Nase fassen. Ich persönlich möchte mich in einer Gesellschaft bewegen, in der ich fair und respektvoll behandelt werde. Das kann ich nur erwarten, wenn ich mich ebenso verhalte.

Was können Verwaltung und Politik tun, um der zunehmenden Respektlosigkeit im Umgang miteinander zu begegnen? Wie sind die tiefen Gräben, die sich zwischen den Bürgern auftun, zu überbrücken?

Respektlosigkeit, spontaner Vandalismus, das Vermüllung unserer Wertstoffsammelstellen und vieles mehr - der Gedanke findet in den Köpfen der Verursacher statt. Da fällt mir spontan wenig ein, wie ich das ad hoc allein politisch lösen kann.

Erreichen Sie die Menschen mit Ihrer Politik also nicht mehr?

Wenn ich was erreichen will, versuche ich mich zu informieren und vernetzen, um meine Meinung erfolgreich einzubringen. Das funktioniert nicht, wenn ich nur Protest und eine Partei wie die AfD wähle. Noch mal: Das Sportpark-Projekt war hier sehr erfolgreich, denken Sie etwa auch an die IG Rumbachtal, die sich erfolgreich für den Hochwasserschutz eingesetzt hat. Diese Beispiele zeigen, dass ein Miteinander funktionieren kann.

Das Gefühl des Abgehängt-Seins macht sich aber auch an der sozialen Schieflage fest.

Ja, es ist eine gesellschaftlich prekäre Situation. Doch es gibt viele öffentliche Einrichtungen in der Stadt, die ein breites Angebot haben für Menschen, die benachteiligt sind oder sich so fühlen. Die Angebote sollten angenommen werden. Die allgemein wachsende Unzufriedenheit betrachte ich aber mit Sorge.

Viele Menschen sind ohne Job, Generation an Generation reiht sich bei Hartz IV ein. Das Gefühl wächst: Ich bin abgehängt. Die Politik hat zugeschaut, wie eine Parallelwelt entsteht, die sich nicht mitgenommen fühlt.

Es gibt nichts Unbefriedigenderes als das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Vielleicht müssten wir uns Gedanken machen über eine Berufsausbildungspflicht. Wir haben ja auch eine Berufsschulpflicht, damit am Ende möglichst viele einen Schulabschluss haben. Ich höre zwar jetzt schon das Gejammer, wer eine Berufsausbildungspflicht bezahlen soll. Ich sage aber: Wir sind ein reiches Land. Mit einer Berufsausbildung ist es leichter, einen Job zu finden. Wir dürfen nicht so viele ins Bergfreie fallen lassen.

Es ist vielleicht eine Aufgabe für die Wirtschaft, die Politik und für die Gesellschaft insgesamt, neue Wege zu finden; Stichworte: Fachkräftemangel, Lehrstellenangebote, Nachwuchsmangel. Wir müssen fördern, aber auch Einsatz fordern. Darüber muss einfach geredet werde, auch wenn es eine Kraftanstrengung würde.

Das müsste der Bund regeln. Was muss man tun vor Ort, damit Bürger sich als Bestandteil der Gemeinschaft sehen?

Die Feldmann-Stiftung macht hier eine tolle Arbeit. Wir organisieren eine Stadtteilkonferenz, die gibt es nur einmal in der Stadt, nämlich in Styrum. Sie ist aus der Bürgerschaft heraus gewachsen und kommt drei- bis viermal im Jahr zusammen. Jeder Bürger ist herzlich eingeladen, dazuzustoßen, sich zu informieren und aktiv zu werden. Ich weiß nur nicht, wie man die Bürger dazu bewegt, die Einladung anzunehmen. Das ist unbefriedigend. Da muss ich mich als Kommunalpolitiker reflektieren, wie ich meine politische Arbeit so gestalte, dass ich damit mehr Menschen erreiche.

In Mülheim wird manchmal auf hohem Niveau gejammert

Warum klappt es nicht, die Menschen mehr einzubinden?

Ich denke, dass wir in Mülheim in vielen Bereichen ein Jammern auf hohem Niveau haben. Wenn man etwas kreiert, sich Gedanken macht, Ideen entwickelt, neigen viele Menschen dazu, erst mal negative Argumente zu einer guten Idee zu finden. Anstatt näher zu hinterfragen, was die Idee Positives bewirken könnte.

Zuletzt bei der Gelbwesten-Mahnwache am Rathausmarkt beklagte eine Styrumerin, dass sie beim Gassigehen im Feldmann-Park häufig massiv beleidigt, verbal angegriffen werde. Gerade unter Migranten sei die Respektlosigkeit gegenüber Frauen weit verbreitet. Was sagen Sie der Frau?

Ich kann da jedem nur empfehlen, Anzeige zu erstatten. Es ist die einzige Möglichkeit, dem anderen zu zeigen: Bis hierhin - und nicht weiter! Ich will auch mit der Verwaltung sprechen, ob es Sinn machen könnte, hier in Styrum häufiger Polizei und Ordnungsamt auf der Straße zu haben, auch wenn ich nicht glaube, dass dadurch solche Situationen in Masse vermieden werden.

Es gibt Styrumer, die beklagen, sich mittlerweile fremd im eigenen Stadtteil zu fühlen. Styrum - ein Problem-Stadteil, dem die Gettoisierung droht?

Ich fühle mich nicht fremd im eigenen Stadtteil. Styrum hat dem Grunde nach eine heterogene Bevölkerungsstruktur, sie ist gesund durchwachsen. Die Schulen funktionieren, sind stark engagiert und arbeiten sehr erfolgreich. Mit der Kita samt Familienzentrum an der Burgstraße haben wir vielleicht die modernste Kita Deutschlands.

Mit der Stadtteilkonferenz, der Feldmann-Stiftung und den Sportvereinen, die wachsen, haben wir ein tolles Netzwerk hier. Styrum ist besser als sein Ruf. Wir leben am Stadtrand, haben Grün, wenn auch nicht so viel. Die Ruhrauen liegen direkt vor unserer Haustür. Problemecken gibt es hier wie woanders auch, ich fühle mich trotzdem wohl hier.