Mülheim. Die Mülheimerin Sina Breitenbruch-Tiedtke steht auf Platz 55 der SPD-Liste zur Europa-Wahl. Wir haben sie zur EU und ihrer Kandidatur befragt.

Eine Mülheimerin kandidiert für das Europaparlament: Sina Breitenbruch-Tiedtke (35) steht zwar nur auf dem eher aussichtslosen Platz 55 der SPD-Liste, als Huckepack-Kandidatin könnte sie unter Umständen aber doch zur Abgeordneten werden. Wir haben sie zu Europa und ihrer Kandidatur befragt.

Warum kandidieren Sie für das Europa-Parlament?

Breitenbruch-Tiedtke: Weil ich Europa stärken und verändern möchte. Ich möchte meinem Sohn später nicht erklären müssen, warum ich nichts gegen den damals aufkommenden Nationalismus getan habe. Ich bin in die SPD eingetreten als Gerhard Schröder „Nein“ zum Irakkrieg gesagt hat. Meine Großeltern haben mir bereits als Kind von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges erzählt. Die identitätsstiftende Wirkung der EU als Friedensprojekt hat meiner Meinung nach noch nicht ausgedient, sondern die friedensstiftende Stärke der EU muss in die heutige Zeit überführt werden. Ich nutze meine Kandidatur, um für eine sozialere, gerechtere und solidarischere EU in der breiten Öffentlichkeit zu werben.

Die Bürger kennen Sie, aber auch alle anderen Kandidaten kaum - ist das ein Manko?

Meine Partei fordert ja eine Einführung von transnationalen Wahllisten, die dann neben der Stimme für die nationale Partei auch die Wahl eines der Spitzenkandidaten vorsieht. Die Medien können dabei auch eine wichtige Rolle spielen, um die Personen, aber insbesondere auch die europäischen Themen der jeweiligen Parteien zur Europawahl bekannter zu machen. Ich trete ja nicht als Einzelperson an, sondern werbe für die Positionen meiner Partei. Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, gemeinsam eine europäische Öffentlichkeit vor Ort mit europäischen Themen herzustellen.

Welche Bereiche der europäischen Politik sind Ihnen am wichtigsten?

Die EU-Regionalpolitik und die EU-Haushaltspolitik sowie Beschäftigung und Soziales.

Die Europaflagge weht vor dem Europaparlament im Wind.
Die Europaflagge weht vor dem Europaparlament im Wind. © dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Das Positive der EU wird von vielen nicht gesehen. Woran liegt das?

Das liegt vor allem daran, dass es leichter ist, den schwarzen Peter von den nationalen Regierungen nach Brüssel zu schieben, da es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Viele Initiativen unter den so genannten EU-Mythen kommen von den nationalen Regierungen, und die Kommission wird gebeten, tätig zu werden, um häufig die jeweiligen regionalen Traditionsprodukte zu schützen. Deshalb ist es nirgendwo so wichtig, wie in den Kommunen in unserem Land, die Auswirkungen von europäischer Politik mit den Bürgerinnen und Bürgern zu besprechen und zu erklären - aber auch zugleich die Kommunen mit in die Verantwortung zu nehmen, für die positiven Seiten der europäischen Politik zu werben.

Wie könnte man mehr Euphorie für Europa erzeugen?

Ich glaube, seit der Entscheidung zum Brexit haben viele Menschen das Gefühl bekommen, dass Europa doch nicht selbstverständlich ist. Ich spüre das jedenfalls an den Wahlkampfständen und bei Diskussionen. In Mülheim sind Gewerkschaften, Wirtschaft, Vereine, Verbände seit Wochen dabei, für die Europawahl zu mobilisieren. Das ist toll. Die Demo am Sonntag unter dem Motto „Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen Nationalismus“ hat beispielsweise Zehntausende in Deutschland motiviert, Flagge für Europa zu zeigen. Das zeigt, Europas Bedeutung ist bei den Menschen angekommen. Darüber hinaus müssen die nationalen Politiker auf allen Ebenen vielmehr auch ihre Vision für die Europäische Union in die nationalen Wahlkämpfe einbringen.

Zur Person

Sina-Breitenbruch-Tiedtke (35) wurde in Mülheim geboren, wuchs in Saarn auf und besuchte die Gesamtschule Saarn.

Sie trat 2004 in die SPD ein, war stellvertretende Juso-Vorsitzende in Bund und Land. Sie hatte verschiedene Ämter im Ortsverein Saarn inne und ist seit 2011 im Unterbezirksvorstand der SPD MH.

Nach dem Sowi-/Politikstudium in Essen/Duisburg und u.a. einem Praktikum bei der EU arbeitete sie als Persönliche Referentin von Walter Momper in Berlin, ab 2010 als Persönliche Referentin von NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Von 2015-2017 leitete Breitenbruch-Tiedtke das Referat für Politische Angelegenheiten (u.a. internationale Kontakte) im Büro Kraft. 2017 wurde sie Leiterin des Referates für Grundsatzfragen der EU und Koordination der europäischen Fachpolitiken in der Staatskanzlei in Düsseldorf.

Die 35-Jährige lebt mit Mann und kleinem Sohn (fast 1) in Saarn und kehrt bald aus der Elternzeit zurück.

In einigen Ländern der EU gibt es verstärkt nationalistische Tendenzen? Wie erklären Sie sich das?

Viele Menschen sind verunsichert und haben Angst vor der Zukunft. Sie haben Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg. Die Sorgen der Menschen müssen ernst genommen werden - aber einfache Antworten gibt es auf die weltpolitischen Herausforderungen nicht.

Was halten Sie dagegen? Was sind die wichtigsten Errungenschaften der EU?

Der Nationalismus hat uns in Europa in zwei schreckliche Weltkriege geführt. Das ist kein Zukunftskonzept für die Menschen in Europa. Zusammenarbeit, Verständnis für den Anderen und Stärkung der einmaligen Struktur der EU muss weiter unsere Antwort sein. Dazu muss die EU die grenzüberschreitenden Herausforderungen anpacken. Der Klimawandel, die Migrationsbewegung und auch die schnelle Digitalisierung machen an keiner Grenze halt. Der Brexit-Prozess zeigt, wie eng die Verbindungen selbst für Großbritannien zur EU sind und wie wenig die britische Regierung die Kontrolle bisher zurückgewonnen hat. Der Video-Skandal um den Rechtspopulisten und ehemaligen Vizekanzler Hans-Christian Strache in Österreich zeigt, wie die rechten Eliten in Europa ticken. Sie sind korrupt bis auf die Knochen und wollen unsere Demokratie an Oligarchen meistbietend verkaufen. Für mich ist die wichtigste Errungenschaft der EU die Sicherung des Friedens auf dem Kontinent seit über 70 Jahren. Darüber hinaus hat die EU dafür gesorgt, dass es keine Binnengrenzen mehr in der EU gibt, eine gemeinsame Währung eingeführt, Verbraucherrechte gestärkt, und sie hat viele junge Menschen durch das Erasmus Programm zusammengeführt.

Wo sind womöglich Fehler gemacht worden?

Die Sparpolitik während der Finanzkrise durch die so genannte Troika hat zu sozialen Verwerfungen vor allem im Süden Europas geführt. Wichtige Reformen der Wirtschafts-und Währungsunion wurden nicht angepackt. Die EU-Kommission und auch der EUGH haben sich in der Vergangenheit oft eher für die Marktschaffung als um die Regulierung und den sozialen Schutz der Arbeitnehmer/innen eingesetzt.

Worum müssen sich die EU-Politiker in nächster Zeit dringend kümmern?

Darum, ihr soziales Versprechen endlich einzulösen. Wir brauchen soziale Mindeststandards: Dazu gehört ein europäischer Mindestlohn, der 60% des jeweiligen Durchschnittslohns entspricht. Das würde beispielsweise für Deutschland eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro entsprechen. Außerdem brauchen wir klare Mindeststandards zur Mitbestimmung in Unternehmen. Darüber hinaus werden wir die Bekämpfung der Kinderarmut in der EU zu einem zentralen Thema machen. Die EU muss sich ehrgeizigere Klimaschutzziele setzen. Eine klimaneutrale EU bis 2050 muss das Ziel sein. Bei der Umsetzung dieses Ziels müssen der Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit verbunden werden. Darüber hinaus muss die EU gemeinsam ihre Rolle zur neu zu ordnenden Partnerschaft zu den USA finden und eine Antwort auf das immer dominanter vorgehende China entwickeln. Das kann kein Land der EU alleine. Und an die nationalen Regierungen gerichtet, muss es endlich eine europäische Seenotrettung geben und eine Lösung für eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge. Hier liegt es jetzt in der Hand der nationalen Regierungen.

Radler nutzen den Radschnellweg RS1 in Mülheim, der unter anderem mit EU-Fördergeldern ermöglicht wurde.
Radler nutzen den Radschnellweg RS1 in Mülheim, der unter anderem mit EU-Fördergeldern ermöglicht wurde. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Was tut die EU für Mülheim?

In den letzten 12 Jahren sind 23 Mio. Euro aus den EU-Förderprogrammen nach Mülheim geflossen. Pendler benutzen den neuen Radschnellweg, um zur Arbeit zu kommen und spazieren am Abend die Mülheimer Ruhrpromenade entlang. Studenten und Wissenschaftler der Hochschule Ruhr West arbeiten an Projekten, die von der EU kofinanziert worden sind. Das sind nur einige Beispiele, in denen die EU in unserem Alltag sichtbar wird. Darüber hinaus gibt es das EU-Schulprogramm NRW, für Obst, Gemüse und Milch, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Kinder in Kitas und Schulen mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen. Das muss bekannter werden, deshalb hat die SPD-Fraktion im Rat der Stadt auch einen Antrag eingebracht, der die Verwaltung auffordert, Projekte deutlicher zu kennzeichnen und auf der Homepage der Stadt aufzulisten , so dass alle Bürgerinnen und Bürger sehen können, was die EU vor Ort für sie tut.

Sie sind Frau und junge Mutter. Muss sich die EU auch mit Gleichstellungsfragen oder Familienpolitik beschäftigen?

Debatten wie #MeToo haben in der Vergangenheit die Reichweite von Belästigung und Diskriminierung transparent gemacht, denen Frauen in unserer Gesellschaft nach wie vor ausgesetzt sind. Aktuell erhalten Frauen in Europa durchschnittlich 16 Prozent weniger Lohn und 39 Prozent weniger Rente. In einigen Ländern der EU gib es sogar Rückschritte. Also, ja. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein Grundwert der EU. Es geht aber nur langsam voran. Ich habe im Freundeskreis natürlich Kontakt mit anderen jungen Müttern und Vätern aus Europa, und wir brauchen Unterstützung, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für berufstätige Eltern und pflegende Angehörige hinzubekommen. Regelungen von Mutterschutz, Elternzeit und Vätermonate sind überall unterschiedlich geregelt. Deutschland hat bereits hohe Standards, aber die EU kann hier auch immer wieder eine Entwicklung nach oben bewirken. Interessant wäre bei der im Februar verabschiedeten Vereinbarkeitsrichtlinie zum Beispiel in Deutschland die zweiwöchige bezahlte Freistellung der Väter nach der Geburt zusätzlich einzuführen.

Sie stehen auf Platz 55 der SPD-Liste, die Chance, ins Parlament zu kommen, ist nicht so groß. Haben Sie vor, in fünf Jahren nochmal anzutreten?

Ich habe mir vor fünf Jahren nicht vorstellen können, dass ich die Chance bekomme, für meine Partei als Kandidatin für das Europäische Parlament zu kandidieren und damit mein politisches Herzensthema in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Ich freue mich jeden Tag über das tolle Engagement der SPD-Mitglieder vor Ort und freue mich, so viele unterschiedliche Menschen bei meinen Wahlkampfterminen kennenlernen zu dürfen. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, und ich bin ja auch Huckepackkandidatin. Im Übrigen entscheidet über eine Kandidatur immer unsere Partei.