Mülheim. . In kaum einer anderen Großstadt hat die Armutsentwicklung zuletzt derart Dynamik erfahren wie in Mülheim. Ein Sozialforscher warnt eindringlich.
Moment mal! Hieß Mülheim nicht auch die „Stadt der Millionäre“? Fahren hier nicht nach München die meisten Cabrios? Und ist nicht auch die einzelhandelsrelevante Kaufkraft in Mülheim überdurchschnittlich hoch? Ach ja, dann ist ja auch noch die Arbeitslosigkeit verglichen mit anderen Städten des Ruhrgebietes viel geringer. Also, alles gut in der Stadt am Fluss? Von wegen. Der Sozialforscher Volker Kersting sieht in Mülheim eine bedrohliche Entwicklung: Die Armut breitet sich mit einer Dynamik aus, die für die Stadt „dramatisch ist“.
In Mülheim gebe es inzwischen Gebiete, in denen 40 Prozent der Bewohner von Hartz IV und Grundsicherung leben, so Kersting. „Es gibt Straßenseiten, dort liegt die Quote nahezu bei 100 Prozent.“ Teile der Innenstadt und Eppinghofen, aber auch Styrum sind besonders betroffen. Besonders stark, wie in keiner anderen Großstadt, hat dabei in den vergangenen zehn, zwölf Jahren die Kinderarmut zugenommen, etwa um 50 Prozent.
Wenn Kinder die Zukunft sind, verspielt Mülheim seine gerade
Auf der Deutschlandkarte zur Kinderarmut taucht Mülheim nahezu mit an der Spitze auf. „Aufgrund der Zahlen kann man sagen: Wenn Kinder unsere Zukunft sind, dann wird in Mülheim seit langem die Zukunft verspielt. Und ich habe nicht den Eindruck, dass das in Wirtschaft und Politik hinreichend ernst genommen wird, damit den Daten auch genügend Taten folgen. Sparen bei der Bildung und im Sozialen wäre sicherlich nicht die richtige Antwort auf die enormen Herausforderungen. Das Gegenteil wäre erforderlich“, sagt Kersting, der viele Jahre in der Stadtverwaltung Analysen zur Stadtforschung und Stadtentwicklung angestellt hat. Noch dramatischer sähe es aus seiner Sicht aus, wenn es die verschiedenen Unterstützungen in der Bildung wie etwa das U25-Haus oder Projekte an Schulen und in Kitas nicht gäbe, die helfen sollen, Defizite zu beheben, Chancen zu steigern.
Doch mit einer punktuellen Projektpolitik wird man nach Meinung des Sozialforschers nicht die Wende schaffen. „Ehrliche Analysen, keine Beschönigungen“, fordert Kersting. Er sieht die gesamte Gesellschaft gefordert, nicht nur Stadtverwaltung und Politik, sondern auch die Wirtschaft, nicht nur soziale Einrichtungen, sondern auch Stadtplaner. „Wo etwa sollen Kinder in der Innenstadt spielen“, fragt er sich und weist darauf hin, dass Bewegung und Sport sehr wichtig für eine gute Entwicklung sind, dass sie dazu beitragen können, Bildungschancen zu erhöhen. Gerade in den Stadtteilen, in denen die Kinderarmut besonders groß ist, treiben viele Kinder keinen Sport im Verein. Die Statistik zeigt es.
Forscher: Entwicklungen zu lange ignoriert
Auch die Jahre, die Eltern in ihre eigene Bildung investiert haben, haben viel mit der sozialen Entwicklung zu tun, die später die Kinder nehmen. Auch hier gibt es große Unterschiede in der Stadt: In Stadtmitte und Styrum etwa haben Eltern durchschnittlich elf Bildungsjahre absolviert, in Holthausen, Menden, Speldorf sind es 16.
Lange Zeit, bedauert der Sozialforscher, habe man in Mülheim die Verschlechterungen nicht wahrgenommen oder wahrnehmen wollen. Erst in letzter Zeit werde auch registriert, dass die Entwicklung auf dem Mülheimer Arbeitsmarkt keineswegs gut sei, dass die gute Konjunktur sich hier nicht niederschlage wie anderswo, dass industrielle Großbetriebe massiv zu kämpfen haben. Vor allem an Frauenarbeitsplätzen mangele es, und Frauen fehle es auch an Betreuungsmöglichkeiten. Jedes zweite Kind, das in Armut aufwächst, ist das Kind einer allein erziehenden Mutter.
Auch deutliche Zunahme der Altersarmut
Armut erfasst alle Altersschichten. Der Anteil der über 65-Jährigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, hat ebenfalls in einigen Stadtgebieten deutlich zugenommen, teilweise hat sich die Zahl der Betroffenen verdoppelt, auch hier trifft es die Innenstadt, Eppinghofen, aber auch Teile von Dümpten besonders. „Ich schätze“, sagt Kersting, „dass die Zahl der Berechtigten noch größer ist. Viele wissen nicht, dass sie Anspruch auf Unterstützung haben, oder sie fordern diese nicht ein.“
>> DATEN ONLINE – DER KECK-ATLAS
Der Keck-Atlas, aus dem die Daten dieser Seite entstammen, liefert jede Menge Zahlen und Analysen zur Großstadt Mülheim. Seit 2012 nimmt Mülheim an Keck teil. Keck steht für Kommunale Entwicklung – Chancen für Kinder.
Im Atlas zeigen Statistiker kleinräumig über Jahre Entwicklungen auf. Diese sollen dann Verwaltung und Politik helfen, richtige Maßnahmen zu ergreifen.
Der Atlas ist auf muelheim-ruhr.de zu finden.