Mülheim. . Experten fordern auf Fachtagung eine Kindergrundsicherung und den Ganztag in allen Grundschulen. Sowie mehr Frühförderung und Schulsozialarbeit.

Die Zahl erschreckt: Ein Drittel der Mülheimer Kinder lebt mit den Eltern von Arbeitslosengeld II, sie sind von Armut bedroht. Gleichzeitig ist in den vergangenen Jahren nicht nur die Zahl der „armen“ Kinder, sondern auch die Zahl der Einkommensmillionäre in Mülheim gestiegen. Nach einer Auftaktveranstaltung im September zum Thema Kinderarmut in Mülheim, beschäftigten sich 30 interessierte Mülheimer, auf Einladung der SPD-Fraktion, im Medienhaus mit der Frage, was man konkret gegen Kinderarmut tun könnte.

Sowohl die Profis, die als Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagoginnen, Erzieher, Lehrer und Fallmanager mit dem Thema beschäftigt sind, als auch die schlicht interessierten Bürger, wie der Vorsitzende des Eppinghofer Bürgervereins, Bernhard Köhler, führten während der gut zweistündigen Diskussion bemerkenswerte Lösungsvorschläge ins Feld.

150 verschiedene Gesetze

Bernd Köhler sieht einen Kern des Problems in der finanziellen Förderstruktur, die sich im Bereich der Bekämpfung von Kinderarmut auf fast 150 verschiedene Gesetze verteile. Er fordert eine Durchforstung der kommunalen, regionalen und nationalen Förderinstrumente und eine radikale Aufhebung des Kooperationsverbotes der verschiedenen politischen Ebenen, wenn es um konkrete sozialpolitische Maßnahmen zugunsten armer Kinder und ihrer Eltern gehe.

Der ehemalige Leiter der Sozialagentur, Klaus Konietzka, sieht unter anderem im Bildungsbereich Nachholbedarf, da 40 Prozent der betroffenen Eltern noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss und 84 % keine Berufsausbildung hätten. Flankierend spricht er sich für die bundesweite Einführung einer Kindergrundsicherung aus.

„Mehr Spiel-, Bewegungs- und Freiräume“

Aus Sicht des Mülheimer Sozialforschers Volker Kersting täte die Stadtplanung gut daran, mehr Spiel-, Bewegungs- und Freiräume für Kinder einzuplanen, weil die Gehirnforschung gezeigt habe, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Motorik und intellektueller Entwicklung gebe.

Schulsozialarbeiter Georg Jöres lobte die Stadt Mülheim ausdrücklich für ihre überdurchschnittlichen Investitionen in denen offenen Grundschulganztag. Während der kommunale Pflichtbeitrag bei 400 Euro pro Kind liege, zahle man in Mülheim 2800 Euro, um eine qualifizierte pädagogische Betreuung und Förderung zu gewährleisten, auf die vor allem Kinder aus armen und bildungsfernen Familien angewiesen seien.

Hohes Förderniveau für den Ganztag

In diesem Zusammenhang würdigte Klaus Konietzka die Absicht der Mülheimer Kommunalpolitiker, trotz der desolaten Haushaltssituation der Stadt am hohen Förderniveau für den offenen Ganztag in den Grundschulen festzuhalten.

Georg Jöres hielte es angesichts der in Mülheim drastisch angestiegenen Kinderarmut für sinnvoll, den offenen Ganztag in Grundschulen in einen gebundenen und für alle Kinder verpflichtenden Ganztag umzuwandeln.

Das würde aus Sicht der Pädagogen Andrea Schindler (Erich-Kästner-Schule) und Matthias Kocks (Willy-Brandt-Gesamtschule) aber nur dann Sinn machen, wenn allen Schülern – so zum Beispiel ist es in Lübeck – über ein Förderbudget für arme Kinder ein kostenfreies Mittagessen und eine Finanzierung der schulischen Grundausstattung, respektive der Teilnahme an Schulprojekten, ermöglicht würde.

Für Elena Stanowski vom Kinderschutzbund können gut gemeinte Förderprogramme wie das Bildungs- und Teilhabepaket ihre oft von Arbeitslosigkeit und anderen sozialen Probleme betroffenen Adressaten nur erreichen, wenn die Beantragung entbürokratisiert würde. Außerdem fordert Stanowski vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen aus der Eltern-Kind-Beratung, die freien Träger von Kindertagesstätten zu mehr Flexibilität und Entgegenkommen auf, wenn es darum gehe, Kinder aus nicht-christlichen Zuwandererfamilien aufzunehmen und ihnen damit die für sie besonders notwendige Frühförderung zukommen zu lassen.

Teufelskreis der vererbenden Armut

Die Styrumer Schulsozialarbeiterin Doris Wieschermann glaubt, dass man Kinder aus bildungsfernen und materiell armen Elternhäusern nur dann aus dem Teufelskreis der sich vererbenden Armut befreien kann, wenn man die Förderdefizite in den Elternhäusern durch den verstärkten Einsatz von Schulsozialarbeitern kompensiere. Nur so könne man eine strukturelle Überforderung der Lehrer verhindern und Kindern aus den betroffenen Familien eine Entwicklungsperspektive eröffnen.