Cem Aydemir fiel 2018 die Spesen-Affäre des Oberbürgermeisters vor die Füße. Kommissarisch hat er den Parteivorsitz übernommen und noch viel vor.
Cem Aydemir sitzt in seinem Büro in Speldorf eingerahmt zwischen Bauzeichnungen und Kinderbildern. Der 42-jährige Familienvater ist von Beruf Bauingenieur, ein Spezialist für Statik und Tragwerksplanung. Ob es ihm hilft, seine aktuell größte Baustelle in den Griff zu bekommen? Er ist derzeit auch Chef der SPD in Mülheim mit knapp 1600 Mitgliedern. 2018 fiel Cem Aydemir die Spesen-Affäre des Oberbürgermeisters vor die Füße und damit dieses Amt. Mit Silvia Richter hat er im SPD Unterbezirk die kommissarische Leitung übernommen, die OB Scholten derzeit ruhen lässt. Geplant war das alles nicht.
Die Eltern von Cem stammen aus Samsun am Schwarzen Meer. Sie kamen in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Der Vater arbeitete im Stahlbau. Cem wurde in Bielefeld geboren, das jüngste von vier Kindern. Er besuchte die Realschule und ging danach weiter zur Schule mit dem Ziel Abitur, wie es alle Geschwister machten. Er scheiterte. Der Vater schickte ihn quasi am Tag darauf an den Hochofen als Auf- und Ableger. Acht Wochen malochte er bei Mannesmann und nennt die Zeit ein Schlüsselerlebnis: „Ich erkannte, dass es nur mit Bildung aufwärts geht.“ Im zweiten Anlauf gelang ihm das Abitur, in Bochum studierte er Bauingenieurwesen, schrieb nach dem Diplom 200 Bewerbung und musste feststellen: Keiner wollte ihn.
Hilfe in Mathe und Deutsch
In einem kleinen Speldorfer Ingenieurbüro bekam er schließlich eine Chance. Heute leitet er es mit einem Partner. Es läuft gut. Sie könnten sich vor Arbeit kaum retten, sagt er. Mit seiner Frau, einer Fachärztin mit eigener Praxis, zog er nach Broich, wo auch seine beiden Kinder auf das Gymnasium gehen. Die Geschichte von Aydemir ist eine Erfolgsgeschichte über gelungene Integration. Wenn er in der Schule der Kinder oder im Sportverein gebraucht werde, packe er gerne mit an, erzählt er. Und bei den Hausaufgaben? „In Mathe und Deutsch kann ich helfen.“
Seine meiste Zeit jedoch geht seit Monaten für die Parteiarbeit drauf. Vor gut zehn Jahren trat er in die SPD ein. Warum SPD? Der Vater hatte die Partei schon immer hervorgehoben, sagt Aydemir und erinnert sich an die Zeit bei Mannesmann, wo SPD und Gewerkschaft eine große Rolle spielten. Damals. Irgendwann stand dann mal ein Juso vor seiner Tür und fragte, ob er sich nicht stärker engagieren wolle. „Ich habe dann Flyer verteilt, Plakate geklebt, mich in Parteiinhalte eingearbeitet.“ Er gewann schnell viele Freunde in der SPD, rückte recht schnell in den Vorstand auf. Heute ist er Vorsitzender des Ortsvereins Broich.
Politik als Beruf? Eindeutig nein, sagt er. „Ich bin und will beruflich unabhängig von der Partei sein.“ Verantwortung indes will er gerne noch mehr übernehmen. Mit 42 Jahren sieht er sich als „Brücke“ zwischen Jüngeren und Älteren.
Die Affäre des OB brach über ihn unerwartet herein. Dabei galt und gilt für ihn: „Die Unschuldsvermutung ist ein sehr hohes Gut, sie gilt für alle.“ Also wartet er ab, was die Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen zu den Spesengelder herausfindet und riet dies stets auch allen anderen in der Partei. Er steht loyal zum OB und weiß auch heute noch nicht, warum vier Genossen Scholten im Mai des vergangenen Jahres kurz nach dem Tod dessen Frau mit den Spesenabrechnungen unter Druck gesetzt und ihn zum Rücktritt aufgefordert haben. „Aber es kommt eines Tages heraus.“ Er appelliert an die Fairness, hat die friedliche Zeit über den Jahreswechsel in der Partei genossen, nachdem auch er teils übel angegangen worden sei. Er sagt, dass auch er sicher Fehler gemacht habe. Mit dieser Selbstkritik unterscheidet er sich von vielen anderen in Partei und Fraktion.
Vertrauen aufbauen undklare Standpunkte beziehen
Cem Aydemir will die SPD in Mülheim wieder festigen, ein schwieriges Unterfangen in diesen Zeiten, wo viele in Partei und Fraktion sich nach wie vor nicht grün sind. Der Fahrplan für die nächste Zeit steht mit einem inhaltlichen Parteitag im März, mit den Vorstandswahlen im Herbst, mit den Vorbereitungen im Frühjahr 2020 für die Kommunalwahl. „Für die SPD kommt es jetzt erst einmal darauf an, wieder Vertrauen aufzubauen, mit Inhalten zu punkten, klare Standpunkte, etwa zur VHS, zu beziehen, näher an die Sorgen der Bürger heranzurücken“, zählt er auf und betont: „Inhaltlich liefern muss auch der OB.“
Und sollte die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Ulrich Scholten erheben? „Dann bricht ein Vulkan los.“ Für den kommissarischen Vorsitzenden wäre es die nächste große Herausforderung.