Mülheim. Die Kirche erlebt an Weihnachten 2018 eine große Vertrauenskrise. Sie muss und wird sich wandeln, sagt Michael Schlagheck, Leiter der Wolfsburg.

Die Wolfsburg im Uhlenhorst ist seit Jahrzehnten d i e Bildungseinrichtung des Bistums. Dort werden von Experten wie Laien die großen Fragen der Zeit diskutiert. Fragen, die im Ruhrgebiet die Menschen bewegen, aber auch Fragen der großen weiten Welt. Seit 23 Jahren leitet Dr. Michael Schlagheck die Akademie. Sein Grundsatz: „Jeder ist in der Wolfsburg willkommen, so lange er das wertschätzende Gespräch sucht und annimmt.“

Rund 70 Millionen Menschen sind auf der Flucht. L aut Unicef stirbt alle zehn Sekunden ein Kind an Hunger , 3,6 Milliarden Menschen leiden akut unter Wassermangel, im Kampf gegen den Terror hat es bisher gut 500.000 Tote gegeben – was macht Gott eigentlich?

Schlagheck: Das ist die uralte Frage. Die Frage bleibt offen, und sie wird immer wieder gestellt werden. Wir sollten diese Frage auch wach halten, weil es dabei auch um unsere Verantwortung auf der Welt geht. Und Verantwortung heißt, da verweise ich auf den Theologen Dietrich Bonhoeffer, an einem mir gegebenen Ort das mir Mögliche und Notwendige zu tun.

Die christlichen Kirchen in Deutschland verlieren weiterhin Mitglieder, das Bistum Essen schrumpft von Jahr zu Jahr. Auf der anderen Seite wird derzeit darüber diskutiert, ob die Kirchen für Weihnachten Platzkarten vergeben sollten, weil der Andrang so groß ist. Ein Widerspruch?

Das ist kein Widerspruch. Gerade an solchen Tagen wie Weihnachten kommen Grundsehnsüchte hervor. Viele Menschen sind davon überzeugt, dass es nicht alles sein kann, was wir hier erleben. Für die Kirche heißt das, dass sie darüber nachdenken muss, welche Orte und Gelegenheiten schaffe ich, um Menschen mit ihren Fragen zusammenzubringen.

Wie wird sich die Kirche konkret ändern müssen?

Das Netz der Gemeinde, so wie es immer war, wird nicht mehr tragfähig sein. Wir brauchen andere Orte für Fragen. Die Kita kann ein kirchlicher Ort sein, ein Altenheim, ein Krankenhaus, eine Sozialstation. Wir als Akademie Die Wolfsburg begleiten seit einiger Zeit Mitarbeiter aus Krankenhäusern und fragen danach: Welche Werte treiben Euch an? Auch das ist Kirche. Dann wird es darum gehen, diese Werte im Alltag umzusetzen. Dazu müssen aber auch Organisation und Strukturen in einem Haus verändert werden. Wir werden also noch viel stärker darüber nachdenken müssen, wo findet Kirche in der Stadt statt?

Also muss Kirche wesentliche niederschwelliger werden?

Daran arbeiten wir. Die Segnungsgottesdienste werden zum Beispiel sehr gut angenommen. Oder die neue Gottesdienstform Hora, mit der wir auch Menschen erreichen wollen, die sonst keine Kirche aufsuchen. Wir hatten beim ersten Mal 140 Gäste in unserer Akademiekirche. Kirche muss auch immer rausgehen, sich für andere und ihr Leben interessieren. Die Neugierde ist dazu sehr wichtig. Weihnachtlich gesprochen: Gott zeigt Interesse am Menschen. Seine Menschwerdung passiert an vielen Orten im Alltag.

Nun hat die katholische Kirche in diesem Jahr viele negative Schlagzeilen produziert. Der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester macht viele Menschen fassungslos, erschüttert sie. Wie groß ist die Vertrauenskrise?

Die Vertrauenskrise ist so stark, wie es noch nie eine gegeben hat. Noch nie ist das Vertrauen durch kirchliche Macht so missbraucht worden. Man kann es sich nicht schlimmer vorstellen. Und ich gebe dem Kommentator Recht, der geschrieben hat: Wenn die Kirche sich jetzt nicht ändert, wird die Zeit über sie hinweggehen. Die Kirche wird lange brauchen, um das Vertrauen zurückzugewinnen. Das erfordert eine andere Haltung! Wir brauchen in der Kirche auch andere Strukturen, die diese Haltung fördert. Wir werden jetzt reden müssen über Kontrolle auf allen Ebenen, wir werden über den Zölibat reden müssen, über Frauen und ihre Stellung in der katholischen Kirche, wir müssen nachdenken über eine alternative Priesterausbildung.

Ihr Haus, Die Wolfsburg, schreibt von Jahr zu Jahr immer höhere Besucherzahlen. In diesem Jahr kamen 31.000 Menschen in die Wolfsburg, um über Fragen der Zeit nachzudenken und zu reden. Worauf führen Sie das Interesse zurück?

Zum einen gibt es ein großes Interesse daran, an profilierten Orten mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen und sich weiter zu bilden. Zum anderen suchen wir den engen Kontakt zu vielen Partnern. Wir gehen auf diese Partner zu. Ein Beispiel ist das Unternehmen Evonik. Wir hatten von dem Unternehmen 300 Führungskräfte aus aller Welt zwei Mal zwei Tage bei uns im Haus und haben über die Fragen diskutiert: Was treibt dich als Manager an? Welche Werte vertritt du? Wie gehst du mit Macht um? Dabei kann es dann auch um so ein Thema gehen: Wie gehe ich mit meinen wirtschaftlichen Interessen in einem Land um, wo die Menschen sehr unter Wassermangel leiden? Uns geht es darum, einen ethischen Kompass mit den Gästen zu entwickeln.

Sehen Sie darin auch ein Stück Kirche?

Auf jeden Fall. Die Welt ist so unübersichtlich geworden, dass es Auftrag von Kirche ist, die Menschen in ihrem Leben zu begleiten. Wir werden die großen Fragen unserer Zeit nur gemeinsam im Gespräch lösen können.

Blicken wir in die Zukunft: Was könnten die Themen der Wolfsburg von morgen sein, vielleicht in 20 Jahren?

Es wird immer darum gehen: Wo ist mein Nächster, für wen trage ich Verantwortung. Und der Nächste kann auch im Jemen sitzen. Die Grundfragen werden sich nicht ändern. Für uns und die Kirche wird es immer wichtig bleiben, unterwegs zu sein mit vielen Leuten.

Die Wolfsburg: früher Kurhotel, heute Tagungsstätte

Das Gebäude „Die Wolfsburg“ stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert. Es diente lange als Kurhotel des Solbades Raffelberg und war ein beliebtes Ausflugsziel. Der Name soll darauf zurückzuführen sein, dass in der Gegend einst Wölfe geschossen wurden.

1958, als das Bistum Essen gerade entstanden war, wurde das Gebäude durch den ersten Ruhrbischof Franz Hengsbach erworben.

Seit 1960 dient die Wolfsburg als Katholische Akademie für Erwachsenen- und Soziale Bildung. Anfang der 1990er wurde sie zum modernen Tagungsort umgebaut.