Mülheim. . Der 33-jährige Journalist aus Berlin lebt seit sechs Wochen in der Stadt. Bei Hilberath & Lange präsentierte er sein Konzept und seine Texte.

Immer wieder wird Stadtschreiber Lucas Vogelsang auf den Titel seines Buches „Heimaterde“ angesprochen. Ob er als Berliner wisse, dass es in Mülheim einen Stadtteil gebe, der so heißt, erzählt der 33-Jährige, der seit sechs Wochen in der Stadt lebt und versucht, den Satz typisch nach Ruhrpott klingen zu lassen. In der Saarner Buchhandlung Hilberath & Lange stellte er sich, seine Texte und seine Rolle vor. Heimaterde kannte er sogar, Helge Schneider hatte ihm mal davon erzählt.

Aber das fiel ihm erst ein, als er nach einer langen Wüstentour in Namibia ein rostiges Ortsschild mit dem gleichen Namen fand. Das passte dann zum Buch, in dem er versucht, das Fremde im Vertrauten und andersherum auszuloten. Einen Migrationshintergrund haben schließlich irgendwie alle im Pott. Spätestens mit ihren kohleverschmierten Wangen sahen sich die Bergleute, die unter Tage alle aufeinander angewiesen waren, ähnlich. Lothar, der Vorsitzende des Kleingartenvereins, stellt das fest, „nachdem er das Wort ergriffen hat und es nicht so aussah, als würde er so schnell es wieder hergeben.“

Internetblog stadtschreiber-ruhr.de ist online

Einige pointierte Formulierungen und prägnante Beobachtungen gelingen Vogelsang. Die 90-minütige Lesung bewegt sich zwischen Nachdenklichkeit und Flapsigkeit, trotz einiger Längen ist es meist unterhaltsam. Klischees möchte er vermeiden, nicht erneut das schreiben, was unzählige vor ihm getan haben, die Themen grünes Ruhrgebiet, Zechensterben und Zuwanderung meiden, wenn ihm nicht eine besondere Perspektive gelingt, wie beim Besuch der Duisburger Schimanski-Kneipe. Reporter brauchen vor allem Zeit und müssen den Moment erkennen. Diese Originalität gelingt Vogelsang nicht immer und er bedient dann zuweilen doch das Klischee.

Als Stadtschreiber Ruhr will er wahrgenommen werden und veröffentlicht fortlaufend im Internet. Drei Formate hat er sich vorgenommen. Mit Stadtpaten, Prominenten wie Hannelore Kraft, Helge Schneider oder Joachim Król will er sich ihre Stadt abseits des Bekannten zeigen lassen. „Fünf Minuten Pott“ nennt er Begebenheiten und Anekdoten, die er erlebt hat und so formuliert, wie er sie einem Freund erzählen würde. Schließlich gibt es größere Reportagen „Und um die Ruhr“. Den Blog (www.staadtschreiber-ruhr.de) gibt es seit Mittwoch und er besteht vorerst aus zwei Mülheimer Texten.

Abwesenheit von Protz, Glamour und Geld in der City

Geht es um das Ankommen, muss die Fußgängerzone thematisiert werden, die allenfalls bei geschlossenen Augen punkten kann. „Was auffällt, ist die unaufdringliche Abwesenheit von Protz, Glamour, von Geld im sichtbarsten Sinn, als würde es sich verstecken vor neuen, gierigen Blicken“, schreibt er. Er nennt sie Boulevard des Normalen statt Laufsteg der Reichen. Er sieht sie durch Helges Augen im Abstand von 40 Jahren. Er stellt sich vor, wie der singende Spaßmacher bei Eduscho lauert: „auf die Gesten und Gestalten, die Sätze, die gesprochen, die Wörter, die getauscht werden, Silbe für Silbe.“ Helge schöpfe ab, lerne die Figuren auswendig und das Café werde für ihn zum idealen Hörsaal für seine Sozialstudien.

Dann springt er in die Gegenwart. Gibt es etwas Entsprechendes? Vogelsang stößt auf das Mocca Nova am Löhberg und nur 30 Meter entfernt auf Mr. Baker, unterschiedliche Cafés, die er mit der spezifischen Kundschaft und der Atmosphäre in einen spannungsvollen Vergleich setzt.

Büdchen am Kassenberg aufsuchen

„Dieses Deutschland ist an diesem frühen Freitagmittag entweder schon lange in Rente oder gerade erst zugewandert. Da werden dann, auch das ist ein kleines Schauspiel, deutsche Großmütter mit Rollator von afrikanischen Müttern mit Kinderwagen überholt.“Hier mische es sich, ohne sich zu berühren. Nach einem älteren weißen Mann hält er vergeblich Ausschau. Er müsse entweder tot oder in der Kneipe sein.

Einen Treffpunkt, den er unbedingt aufsuchen möchte, hat er schon genau im Blick: ein Büdchen am Kassenberg vis à vis der ehemaligen Lederfabrik Lindgens. Morgens zur Öffnung um 4.30 Uhr will er dort hin. Was zur Hölle ist da los, wer trifft sich dort und aus welchem Grund? „Dann achten sie auch auf die Milchkännchen, denn die sind besonders“, gibt ihm ein Zuhörer mit auf den Weg.

>>> Der Autor und seine Funktion

Die Brost-Stiftung trägt das Projekt Stadtschreiber Ruhr. Nach Gila Lustiger ist Lucas Vogelsang der zweite Stadtschreiber im Ruhrgebiet. Sie wohnen in einer Wohnung in Speldorf. www.brostsstiftung.ruhr. Vogelsang ist Berliner. 2010 erhielt er den Henri-Nannen-Preis und 2013 den Deutschen Reporterpreis. 2019 erscheint sein Buch über 15 Menschen, deren Leben sich durch den Mauerfall geändert hat.