16 weitere Bäume sind in die Liste mit insgesamt rund 130 aufgenommen worden. Fachleute der Stadt arbeiten an der Erhaltung der Bäume.

Viele der Alteingesessenen, die am Hingberg wohnen, ist es ein Begriff – das „Haus mit dem Baum“. Hoch ragen die Äste über die Dachspitze, sein Stamm nimmt ein gutes Stück des Innenhofes an der Hausnummer 92 ein.

Auch für Irmgard Oesterwind war die schon damals stattliche Castanea sativa, oder auch „Esskastanie“, als Kind ein markanter Punkt, eine Art Weggefährte auf ihren Streifzügen durch ihren Kiez. Heute wohnt die 82-Jährige selbst neben dem Baum, klaubt alljährlich die Kastanien auf, um sie an Bekannte zu verschenken – „das ist mein täglicher Sport“, schmunzelt sie.

Beide Weltkriege überstanden

Das prächtige Gewächs ist just mit 16 weiteren in die Liste der Mülheimer Naturdenkmäler aufgenommen worden. Gut 130 sind dort aufgeführt, darunter auch sechs Findlinge. Luftaufnahmen von 1926 belegen, dass die Castanea sativa schon damals hier wuchs und gedeihte, also weit mehr als 92 Jahre auf den Wurzeln hat. Und somit beide Weltkriege überstand, womöglich sogar als Nahrungsquelle diente.

Christian Pieper, Arborist und Baumschützer beim Umweltamt, schätzt das Alter des Baumes sogar auf gut 140 Jahre, denn vermutlich wurde er kurz nach dem Bau des Hauses von 1856 gesetzt. Die Plakette „Naturdenkmal“ zeichnet ihn nun aus, denn „wir hoffen, dass die Mülheimer damit ihre Bäume noch mehr wahrnehmen und schätzen“, verrät Gabi Wegner, stellvertretende Leiterin des Umweltamts, den tieferen Sinn der Auszeichnung.

Viele der Alteingesessenen, die am Hingberg wohnen, ist es ein Begriff – das „Haus mit dem Baum“.
Viele der Alteingesessenen, die am Hingberg wohnen, ist es ein Begriff – das „Haus mit dem Baum“. © Michael Dahlke

Denn natürlich sind Bäume wie die Esskastanie nicht nur Nahrungsquellen für Tiere und – seltener – den Menschen, sondern zuvorderst wichtige Klimaverbesserer in zunehmend verdichteten und überhitzten Innenstädten.

„Unsere oberste Aufgabe ist deshalb der Erhalt“, sagt Wegner, wenn auch sie weiß, dass es immer zwei Rechnungen gibt: die ökologische und die wirtschaftliche. In ihrem Alltag entsprechen sich beide Seiten häufig nicht. „Es gibt Bäume, die man mit wenig Aufwand erhalten kann, aber es macht manchmal keinen Sinn, einen Baum zu erhalten, wenn die Maßnahmen teuer und die Lebensdauer voraussichtlich kurz ist.“

Regelmäßig legt der Arborist sein Ohr an die Rinde

Gut, wenn man in solchen Fällen einen „Anwalt“ hat – Christian Pieper ist ein solcher im übertragenen Sinne. Regelmäßig legt der Arborist sein Ohr an die Rinde, klopft den Stamm auf Hohlräume ab, checkt die Wurzeln. Im Zweifesfall entscheiden er und Fachkollegen für den Angeklagten und die rettende Maßnahme – doch auch er sagt: „Die Kosten müssen verhältnismäßig sein“.

Bei der beeindruckenden Blut-Buche im kleinen Park an der Kluse – ebenfalls ein Naturdenkmal – hat man Einiges für den Erhalt geplant. Der mächtige Stamm von 560 Zentimetern lässt das stattliche Alter von gut 120 Jahren erahnen. In der Krone musste Pieper jedoch nachhelfen: Sie ist dynamisch verseilt, um sie bei starkem Wind zu entlasten.

Ziel ist es, die Vitalität der Bäume zu stärken

Ein Torsionsriss jedoch droht die dicken Äste abbrechen zu lassen. Das Umweltamt will ein Gewinde in den gebrochenen Ast anbringen. Alternativ könnte man den Arm lichten und damit entlasten, „dann würde aber zuviel Sonne auf den Stamm scheinen und ihn schädigen“, rät Pieper eher aufgrund weiterer Folgen ab.

Den Job des Arboristen machten früher Landschaftsbauer, die wie Zahnärzte etwa Hohlräume mit Beton versiegelten, um sie zu stabilisieren, erzählt Pieper. Doch die Stadtbäume sind nicht nur andere als die im Wald – sie erfordern auch andere Maßnahmen. Deshalb greifen Stadtverwaltungen heute auf Spezialisten wie ihn zurück. Die heutigen Baumkundler – erst seit der Jahrtausendwende kann man das Fach studieren – gehen weniger invasiv vor: „Unser Ziel ist es, die Vitalität der Bäume zu stärken. Ein vitaler Baum kann manchen Pilz mit eigenen Mitteln überwuchern und so von der notwendigen Luft abschneiden. Getestet wird dann die Standfestigkeit indem man den Baum zieht.

Wenn die Standfestigkeit schwindet

Die Rotbuche an der Friedrichstraße, Ecke Wilhelmstraße kann ein Lied davon singen. Ihr rückte der Riesenporling an die Wurzel. Gleich mehrere Belastungstests hat das Naturdenkmal deshalb hinter sich. Das Ergebnis war zunächst nicht erfreulich, denn die Standfestigkeit schwand. „Wir haben daher die Rotbuche mit der Nachbarbuche verseilt“, erläutert Wegner. Zusätzlich lichtete man die Krone gleichmäßig aus, um Last zu nehmen.

Denn auch in diesem Viertel sind die Bäume stadtbildprägend. Um das Bewusstsein dafür zu schüren, will Wegner schon bald eine Übersicht mit allen Naturdenkmälern ins Netz stellen, „denn man schützt oft das, was man kennt“.

>> BÜRGER KÖNNEN BÄUME VORSCHLAGEN

In der Regel bestimmt eine Stadt selbst, welche Bäume unter Denkmalschutz gestellt werden. Auch Bürger können Bäume als Naturdenkmal vorschlagen.

Nicht immer stößt dies allerdings auf Gegenliebe, wenn etwa der Baum des Nachbarn unter Schutz gestellt werden soll, räumt die stellvertretende Umweltamtsleiterin Gabi Wegner ein. Dies wird in der Regel nicht erzwungen – zum Schutz des Baumes, der womöglich beschädigt werden könnte, um den Denkmalschutz zu verhindern.

Irmgard Oesterwind ist als nun stolze Besitzerin der Esskastanie nachvollziehbar begeistert von dem Engagement der Baumschützer: „Es ist toll, das etwas für alte Bäume getan wird.“