Mülheim. . Fast 130 Jahre nach dem Tod Songue Epèes besucht ein Nachfahre das Grab in Holthausen. Sein trauriges Schicksal bewegt die Menschen bis heute.
„Ja, Wahnsinn.“ Mehr als 126 Jahre nach dem Tod des kamerunischen Prinzen Songue Epèe, der Ende des 19. Jahrhunderts für wenige Monate in Mülheim-Holthausen lebte, steht ein Mann staunend an dessen Grab: Jean-Pierre Félix-Eyoum, ein Nachfahre auf Spurensuche. Der 66-Jährige ist beeindruckt von dem, was er auf dem stillen Friedhof am Witthausbusch entdeckt: eine hübsch gepflegte Grabstätte mit einem Stein, der die Lebensdaten des Prinzen verrät, mit Laterne, Blümchen und Tafel, die über diesen besonderen Menschen informiert, der vor Ort besser bekannt ist unter seinem Familiennamen Equalla Deido. „Das ist ja so liebevoll gemacht.“ Félix-Eyoum kniet nieder, murmelt einige Sätze in Douala, der Sprache, die ihn mit dem Toten verbindet: „Schön, dass ich zu dir kommen konnte. Schade nur, dass ich nicht mehr mit dir reden kann.“
Mehr als ein Jahrhundert ist es her, da war zuletzt Besuch aus der Heimat an Songues Grab auf dem einstigen Dorffriedhof Holthausens. Im Jahr 1902 soll der Vater – Epèe Equalla Eyoum Ebelle, seines Zeichens König der Deido – am Rande einer offiziellen Reise ins politische Berlin, auch nach Mülheim gekommen sein. Elf Jahre nach dem Tod des Sohnes, um den er sehr getrauert haben muss. So sehr, dass er sich als Zeichen der Pein über lange Zeit den Bart nicht habe abschneiden lassen, erzählt Pfarrer Dietrich Sonnenberger, der sich mit dem Schicksal des in die Ferne entsandten Königskindes seit Jahren beschäftigt, die Info-Tafel aufgestellt hat und regelmäßig nach dem Grab sieht.
Die Deutschen kennenlernen
1890, im Alter von 14 Jahren, war Songue nach Mülheim gekommen, damit er etwas lerne über die Deutschen, die sich als Kolonialherren in der Heimat breit gemacht hatten. „Er sollte befähigt werden, mit ihnen zu verhandeln“, sagt Félix-Eyoum, „ihre Sprache und ihre Kultur verstehen, um dem Vater, dem Stammesfürsten, zur Seite zu stehen.“ Aus den Plänen wurde bekanntlich nichts, nur wenige Tage nach seinem 15. Geburtstag starb Songue Epèe am 1. Mai 1891 – sehr wahrscheinlich in Folge einer Lungenentzündung. Der wohlhabende, zutiefst unglückliche Vater bezahlte die Grabstätte direkt für 100 Jahre.
Jean-Pierre Félix-Eyoum ist „sehr, sehr froh“, den Ort, der seine Familiengeschichte um ein emotionales Kapitel reicher macht, endlich kennenzulernen. „Ich habe schon vor zehn Jahren davon erfahren“, bei Recherchen zur kolonialen Vergangenheit seines Heimatlandes, durch Veröffentlichungen im Internet.
Der 66-Jährige lebt seit Jahrzehnten im Süden Deutschlands. „Ähnlich wie es beim Prinzen war, hat auch mich mein Vater nach Europa geschickt. Er war der Meinung, dass die Schulen in Kamerun nicht gut genug sind.“ Félix-Eyoum landete in Frankreich, freundete sich auf dem Internat in Nizza mit Deutschen an, verliebte sich, kam nach Bayern, wurde enttäuscht, fand dann zum Glück seine Martha und heiratete. Er studierte in München und arbeitete bis 2015 als Sonderschullehrer.
Schwager Wonja ist Bindeglied zu Songue
Seine in der Heimat gebliebene Schwester Ebenye ist ebenfalls verheiratet – was für diese Geschichte ein wichtiger Fakt ist. Félix-Eyoums Schwager Wonja nämlich ist das Bindeglied zu Songue Epèe: Wonjas Großvater war der jüngere Bruder des Prinzen. Und ähnlich wie in Mülheim, wo die exotische Geschichte des afrikanischen Jungen noch heute vielen ein Begriff ist, gibt es auch in Kamerun noch Menschen, die von dem 1876 geborenen Jungen erzählen.
Die Erinnerung wird unter anderem wach gehalten durch ein Fenster in der evangelischen Kirche in Bonamadourou: Es zeigt Jesus, wie er Songue Epèe liebevoll in den Arm nimmt und Songues jüngerer Schwester die Hand auflegt. In Ermangelung eines Grabes habe König Epèe Equalla Eyoum Ebelle das Kirchenfenster in Auftrag gegeben, berichtet Jean-Pierre Félix-Eyoum. Eine Aufnahme der farbenfrohen Scheibe hat er Pfarrer Sonnenberger von der letzten Kamerunreise mitgebracht.
Ein ernst dreinschauender Teenager
Die Abbildung auf Glas ist nicht die einzige Darstellung des Prinzen, die bis in die heutige Zeit überdauert hat. Das Schwarz-Weiß-Foto auf seinem Grab bringt den weit gereisten Besucher und seinen Begleiter zum Nachdenken: Der junge Mann auf dem Bild schaut ernst drein und sieht deutlich älter aus als ein Teenager von 14 Jahren. Das halbe Jahr in Deutschland habe „emotional sicher viel bewirkt“, sagt Sonnenberger.
Félix-Eyoum studiert jedes Detail des besonderen Ortes, fotografiert viel. Er ist glücklich. Erst recht, als es zu einer unerwarteten Begegnung kommt, die sich kein Drehbuchschreiber schöner hätte ausdenken können: Eine Dame aus der Nachbarschaft, Jahrgang 1933, schlendert mit ihrem Mann über den Friedhof, bleibt bei Songue Epèe stehen und erzählt: „Wir haben schon als Kinder Schneeglöckchen für den Prinzen gepflanzt. Das Grab war immer ein Anziehungspunkt. Dass Sie ein Verwandter sind, ist kaum zu glauben.“ Félix-Eyoum strahlt. „Er hat also immer Besuch gehabt. Das ist wunderschön.“ Mit einem „Vielen Dank, dass wir Sie kennenlernen durften“ verabschiedet er sich von der Mülheimerin. Sie wünscht ihm alles Gute, „und grüßen Sie mir Kamerun“.
Viktoriaschule am Werdener Weg war sein Zuhause
Durch strahlenden Sonnenschein geht die aufregende Entdeckungsreise weiter. Einige Hundert Meter vom Friedhof entfernt liegt das ehemalige Zuhause des jungen Prinzen: die einstige Viktoriaschule am Werdener Weg, die 1879 errichtet worden war und in der heute der Kindergarten Rappelkiste untergebracht ist. In der obersten Etage, so erfährt der wissbegierige Gast, war die Wohnung von Hauptlehrer Heinrich de Jong und seiner Frau Anna, die den jungen Afrikaner aufgenommen hatten.
Félix-Eyoum drückt begeistert auf den Auslöser, will der Verwandtschaft in Kamerun genau schildern können, was er erlebt hat. Es sei „eine Sensation, wie viel noch erhalten ist. Die Leute werden Augen machen“.
Die Geschichte von Rudolf Manga Bell
Songue Epèe ist übrigens nicht der einzige berühmte Verwandte Félix-Eyoums. „Von Seiten meiner Mutter bin ich ein Deido – von Seiten meines Vaters ein Manga Bell.“ Mit der Geschichte von Rudolf Manga Bell, dem jüngeren Bruder seines Großvaters, hat sich Félix-Eyoum seit 1988 intensiv beschäftigt. Filmemacher Peter Heller war damals auf ihn zugekommen und hatte ihn auf das ebenfalls spannende Leben Rudolf Manga Bells aufmerksam gemacht, ihn dazu animiert, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.
Es lohnte sich: Manga Bell war aus gleichem Grund wie Songue Epèe 1891 nach Deutschland gekommen, und zwar nach Aalen in Württemberg. Er war 1897 nach Kamerun zurückgekehrt, wurde Angestellter in der deutschen Kolonialverwaltung, musste sogar einen Eid auf den Kaiser sprechen. Rudolf Manga Bell war beliebt, begleitete Songue Epèes Vater daher auch 1902 auf seiner Delegationsreise zum Kaiser in Berlin, dem man von schlechter Behandlung der Kameruner berichten wollte. Und er war wohl auch am Grab Songue Epèes auf dem kleinen Friedhof in Holthausen.
Wegen Hochverrates hingerichtet
Letztlich nahm auch diese Begegnung mit den Kolonialherren ein trauriges Ende. „Nachdem er sich geweigert hatte, mit der Kolonialmacht gutes Land gegen versumpftes, mückenverseuchtes zu tauschen, wurde er 1914 wegen Hochverrates hingerichtet“, berichtet Félix-Eyoum.
Das Grab an der Röntgenstraße – für ihn und viele andere ist es ein besonderer Ort. Ein Ort, der die schwierige gemeinsame Historie Kameruns und Deutschlands lebendig werden lässt, der an einen Jungen aus hohem Hause erinnert, der fern ab der Heimat Opfer eben dieser Geschichte geworden ist.