Mülheim. . Vertreter aus Politik und jüdischen Gemeinden diskutieren in der Wolfsburg über aufkeimenden Antisemitismus. Auswahl der Gäste wirft Fragen auf.
Gut zwei Monate ist es her, dass das traditionsreiche jüdische Lichterfest auf dem Mülheimer Synagogenplatz aufgrund von Sicherheitsbedenken abgesagt wurde. Ein weiteres Zeichen dafür, dass der „neue Antisemitismus“ in Deutschland angekommen ist. Grund genug für Die Wolfsburg, zu einer Diskussion zu laden. Als Gäste waren Volker Beck, langjähriger Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Dr. Uri Kaufmann, Leiter der Alten Synagoge Essen und Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen geladen. Unter der Leitung von Akademiedozent Tobias Henrix holte das Trio zu einem Rundumschlag aus: Lehrer, Eltern, Politiker, Justiz und – von Beck politisch korrekt ausgedrückt – „Migrationscommunitys“ standen im Fokus der Talk-Runde.
Gäste schildern zahlreiche Eindrücke
Die Gäste schilderten zunächst zahlreiche Eindrücke, wie sich der in den letzten Jahren wieder aufkeimende Antisemitismus in Deutschland äußert. Judith Neuwald-Tasbach, selbst Tochter zweier Holocaust-Überlebender, erzählte aus dem Alltag an Gelsenkirchener Schulen: „Viele Kinder in der Schule tragen aus Angst keine Käppchen. Sie haben Angst, sich vor ihren Mitschülern als Juden zu „outen“. Und dabei steht alles, was Juden machen, im Alten Testament.“
Dass es zwischen den großen Weltreligionen durchaus bedeutende Überschneidungen gibt, erfahre insbesondere der Nachwuchs aus muslimischen Familien nicht mehr, so Uri Kaufmann: „Viele Lehrkräfte haben Angst, dieses Thema anzugehen. Basiswissen zum Judentum fehlt muslimischen Schülern völlig. Dieses zu vermitteln, gehört aber zum verfassungsrechtlichen Auftrag der Schulen dazu.“
Eltern verbieten Synagogen-Besuch
Diese These unterlegte Judith Neuwald-Tasbach, die sich an eine aus dem Ruder gelaufene Diskussionsveranstaltung an einer Gelsenkirchener Schule erinnerte, durch die sie zusammen mit Holocaust-Überlebenden führte: „Da saßen Schülerinnen in der ersten Reihe, die zu mir meinten: ‘Du sprichst ja richtig gut Deutsch’ oder – noch schlimmer – ‘Ich dachte, Juden sehen anders aus.’ Die zwei Holocaust-Überlebenden begannen zu weinen.“
Kritisiert wurde zudem, dass es Eltern immer noch problemlos möglich ist, ihrem minderjährigen Nachwuchs Schulklassenausflüge mit Besuch einer Synagoge zu untersagen. Nochmal Kaufmann: „Niemand soll seine Haltung verändern, aber die anderen Haltungen kennenlernen.“
Das Problem anzugehen, wäre eigentlich Sache der Politik und Justiz. Dass es dort allerdings häufig an dem nötigen Engagement mangelt, merkte Volker Beck an: „In jeder Partei im Bundestag gibt es Antisemiten. Die Parteien zeigen aber jeweils von sich weg und packen nichts an.“ Zudem ließen Polizei und Justiz zu oft die nötige Härte im Kampf gegen Antisemitismus vermissen.
Was an diesem durchaus emotionalen Diskussionsabend leider fast völlig fehlte, waren konkrete Vorschläge der Beteiligten, wie sich die Ist-Situation denn verbessern ließe. Zudem verpassten die Organisatoren die Chance, einen Gast einzuladen, der Erläuterungen um den zuletzt sehr öffentlichkeitswirksamen muslimischen Antisemitismus mit in die Diskussion hätte einbringen können. Wie ein in einer Erstaufnahme-Einrichtung für Flüchtlinge arbeitender Publikumsgast anmerkte: „Es ist ein Drahtseilakt zwischen muslimischen Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus. Aber genau dem müssen wir uns stellen.“ Dies passierte in der Wolfsburg nicht. Was stattdessen im Kopf blieb, war ein Statement von Judith Neuwald-Tasbach: „Meine Eltern sind nach der Shoah hier geblieben. In dem Glauben, dass so etwas nie wieder geschieht. Hätten Sie das gewusst, wären Sie wohl nicht in Gelsenkirchen geblieben.“