Mülheim. In einem Meinungsbild haben Eltern, Schüler und Lehrer aller fünf Schulen gegen das Turbo-Abi gestimmt. Die Hoffnung: Entschleunigung beim Lernen.
Mülheimer Gymnasiasten werden künftig wieder länger büffeln dürfen – die Abkehr vom „Turbo-Abi“ hin zu G9 zeichnet sich an allen fünf Gymnasien der Stadt ab. Aber auch entspannter? Ob nun die erhoffte Entlastung für Schüler eintreten wird, das betrachten manche Lehrer und Schulleiter mit Skepsis. Denn unklar sind noch die neuen Vorgaben des Landes für die schuleigenen Curricula – also die Lehrpläne für die Jahrgänge, insbesondere bis zur zehnten Klasse.
Vor allem die Stimmen der Eltern für ein längeres Abitur waren an allen Gymnasien ausschlaggebend, in manchen Kollegien sprachen sich einige wenige Lehrer jedoch auch für G8 aus oder enthielten sich.
G9 wird erst im Schuljahr 2019/2020 eingeführt
Eine gültige Entscheidung für G9 ist dies jedoch noch nicht, sondern nur ein Meinungsbild. Denn eine Gesetzesvorlage des Landes wird es erst im Sommer geben, im Herbst 2018 fällt dann die Entscheidung in der jeweiligen Schulkonferenz des Gymnasiums, die zu jeweils einem Drittel aus Lehrern, Schülern und Eltern besteht. Das längere Abi wird erst im Schuljahr 2019/2020 für die Klassen 5 und 6 eingeführt.
Und doch gilt das Meinungsbild als so gut wie sicher, denn um beim alten G8 zu bleiben, benötigt eine Schule eine Drei-Viertel-Mehrheit plus eine weitere Stimme. Kein Wunder also, dass es kürzlich bei einer Dienstbesprechung aller Schulleiter im Regierungsbezirk kaum eine Schule gegeben hat, die bei G8 blieb.
Reifere Schüler in der Oberstufe
An der Karl-Ziegler-Schule und am Gymnasium Heißen begrüßt man die Vorentscheidung für G9 ausdrücklich: „Ich glaube, dass wir nun entzerrter arbeiten und den Kindern die Ruhe geben können, sich in der 5 und 6 zu orientieren“, sieht Sigrun Leistritz, Schulleiterin in Heißen, das G9 als Ergänzung zum eigenen Schulkonzept „gute gesunde Schule“. Für Oberstufenschüler bringe das weitere Jahr häufig mehr Reife, um komplexe Themen wie Globalisierung, gleichgeschlechtliche Ehe oder Tod behandeln zu können. Auch Karl-Ziegler-Direktor Martin Teuber hofft auf „mehr Raum für die Entwicklung und Bildung der Schüler“.
Künftig soll die Erprobungsstufe wieder mehr Zeit bieten, um in der Schule anzukommen. Zudem ist es aus Teubers Sicht gut, dass sich alle Gymnasien für G9 ausgesprochen haben, „das macht Kooperationen einfacher und die Möglichkeit, das Gymnasium wechseln zu können“.
Lehrplan, etwa zu Fremdsprachen, noch ungeklärt
An der Otto-Pankok-Schule wertet man die gemeinsame Rückkehr aller Gymnasien als positive Entwicklung gegen eine Konkurrenz der Schulen. Inhaltlich erhofft sich der stellvertretende Schulleiter Ulrich Bender eine „Entschleunigung für Schüler und für Lehrer, damit wir mehr Freiräume haben für die Entwicklung des Unterrichts und der Schule“.
Dennoch wird das neue G9 keine einfache Rückkehr zum alten System aus der Zeit vor 2005. Der Lehrplan – mit welchen Inhalten also das zusätzliche Jahr gefüllt wird – ist in einigen Punkten noch ungeklärt, so etwa die Frage, ob die zweite Fremdsprache wie zuletzt in der sechsten oder wie früher in der siebten Klasse eingeführt wird. Leistritz sieht durch das bisherige G8 eine hohe Belastung für Kinder mit Migrationshintergrund, die auch an den Gymnasien zunehme, „weil sie ab der Sechsten damit neben Deutsch und Englisch eine dritte Sprache lernen müssen“. Hier könnte G9 entlasten.
Wie kommen aber neue Lernschwerpunkte, etwa„digitale Technologien“, zum Tragen? Ulrich Bender fordert von der zukünftigen Schulpolitik insgesamt eine „intelligente Lösung“ für G9. Skeptisch ist Schulleiter Ralf Metzing vom Gymnasium Broich: „Wenn die Debatte um das neue Curriculum positiv verläuft, bleibt mehr Zeit für Vertiefung. Aber wenn ich nun mehr rein packe, bringt das zusätzliche Jahr keine Erleichterung für Schüler.“
Auswirkungen auch auf andere Schulformen
Einen neuen Ansturm auf die Gymnasien erwarten manche Leiter ebenso mit gemischten Gefühlen: „Wie wird sich das auf die Realschulen und Gesamtschulen auswirken?“, fragt Metzing.
Sigrun Leistritz befürchtet, dass darunter auch Schülerinnen und Schüler sein werden, „die aufgrund der speziellen Fördermöglichkeiten besser für die Gesamtschule geeignet wären“.