Mülheim. . Das Ergebnis der Berliner Sondierungsgespräche enttäuscht die Genossen zum Teil massiv, mancher fühlt sich von der Parteispitze sogar getäuscht.

Für die meisten SPD-Mitglieder war der Lesestoff am Wochenende wenig erfreulich. Im Gegenteil: Die 28 Seiten mit den Sondierungsergebnissen der Berliner Genossen und der CDU/CSU sorgen in vielen Ortsvereinen für völlige Ernüchterung. Nicht wenige fühlen sich von der Parteispitze sogar getäuscht. „Eine große Mehrheit der Mülheimer SPD-Mitglieder dürfte auch nach dem Sondierungsergebnis gegen eine Fortsetzung der Großen Koalition sein“, sagt Rodion Bakum, stellvertretender Vorsitzender des Ortsvereins Eppinghofen, nach den Gesprächen, die er bisher geführt hat. Er selbst nennt die Ergebnisse „extrem ernüchternd“.

„Wenn wir das Land nachhaltig verändern wollen, dann reicht das nicht.“ Für Bakum sind die Sondierungsergebnisse ein konservatives Papier, in Teilen CSU pur. Bürgerversicherung und Arbeitsversicherung sind nur zwei wesentliche Punkte der SPD, die ihm fehlen. Für die SPD könnte es aus seiner Sicht viel sinnvoller sein, die führende Oppositionsrolle zu übernehmen.

Frust erfasst inzwischen viele

Frust erfasst inzwischen viele. Ein klares „Nicht mit uns“ kommt am Montagmittag von den Mülheimer Jusos. Sie hatten ohnehin schon niedrige Erwartungen gehabt – „erschreckenderweise wurden sogar diese enttäuscht“. Zwar gebe es einige sozialdemokratische Akzente in dem Sondierungspapier, wie mehr Gebührenfreiheit in der Kinderbetreuung, anderes sei aber eine Mogelpackung wie das Rentenniveau, das ohnehin erst nach 2024 sinken sollte, oder es seien Selbstverständlichkeiten aufgeführt wie das Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit.

Die Jusos lehnen eine Große Koalition entschieden ab, sehen die SPD in einer tiefen Krise und sind überzeugt, diese nur in der Opposition mit einer Schärfung als linke Volkspartei bewältigen zu können. Dass der Vorsitzende Schulz die Sondierung mit „hervorragend“ überschreibt, lässt für die Jusos die Glaubwürdigkeit der Parteispitze weiter schrumpfen.

Parteispitze kommt an der Basis schlecht weg

Ohnehin kommt die Parteispitze an der Mülheimer Basis schlecht weg. Einer, der sich von der Parteispitze regelrecht „hinters Licht“ geführt sieht, ist Jan Vogelsang vom Ortsverein Holthausen. Der 22-Jährige erinnert daran, dass die Gespräche ergebnisoffen geführt werden sollten. „Diese Ergebnisoffenheit hat es aber nie gegeben, die Verhandlungen wurden doch direkt mit dem Ziel Große Koalition geführt“, kritisiert Vogelsang und spricht von einem gewachsenen Misstrauen gegenüber der Parteiführung.

Er lehnt unter den Bedingen eine Groko ab. „Ich hätte mehr Aufrichtigkeit erwartet.“ Dabei, so Vogelsang, seien durchaus einzelne sozialdemokratische Punkte in dem Sondierungspapier enthalten. Aber dies als Erfolg zu feiern, wie es in Teilen der Partei jetzt geschehe, kann er nicht nachvollziehen.

Angst vor Absturz auf 15 Prozent

Begeisterung strahlt auch der Unterbezirksvorsitzende Ulrich Scholten nicht aus. „Es ist für viele Genossen eine Gratwanderung“, sagt er. Auf der einen Seite wolle man sich nicht verweigern und Verantwortung übernehmen, auf der anderen Seite gebe es die große Sorge, dass in einer erneuten Groko die SPD weiter an Profil verliere. Es könnte für die Partei schädigend sein, fürchtet auch Scholten. „Am Ende von Koalitionsverhandlungen müsste in jedem Fall eine deutliche sozialdemokratische Handschrift zu erkennen sein.“

Genau diese Handschrift kann der Ortsvereinsvorsitzende der SPD Broich, Cem Aydemir, derzeit überhaupt nicht erkennen. „Ich möchte nicht mit einer SPD bei 15 Prozent enden“, warnt er. Genau diesen Absturz fürchtet er aber bei einer Großen Koalition. Bürgerversicherung, Erhöhung des Spitzensteuersatzes, eine Dynamisierung des Mindestlohnes – das sind nur einige wichtige SPD-Inhalte, die jetzt schon unter den Tisch gefallen seien. Sozialdemokratische Leuchtturmprojekte? Für viele Fehlanzeige. Und auch Aydemir sagt: „Da war nichts ergebnisoffen.“ Sein Vertrauen in die Parteispitze ist ebenfalls erst einmal hin.

Neuwahlen schlecht für die Vertrauensbildung

Der Broicher kann sich in einer Groko zudem nicht vorstellen, wie sich die SPD erneuern soll. Für ihn wäre das aber zwingend.

Am Montag ist kaum ein Sozialdemokrat zu finden, der nach den Sondierungen eine gewisse Zuversicht vermittelt. „Dürftig“, sagt auch Daniel Mühlenfeld, der Vorsitzende des Ortsvereins Heißen/Heimaterde. Aber er gibt zu bedenken, dass die SPD nicht nur auf ihre Inhalte, sondern auch auf die „Gesamtsituation“ im Bundestag schauen müsse. Ohne die SPD mit in der Regierungsverantwortung fürchtet Mühlenfeld zum Beispiel eine Mehrheit für eine konservative Zuwanderungs- und Integrationspolitik, die die SPD nicht haben will. Und Neuwahlen? „Was soll da anderes herauskommen?“ Und für die Vertrauensbildung sei dies eher schlecht.

<<< MÜLHEIMER DELEGIERTE BEIM BUNDESPARTEITAG

Rund 600 Delegierte entscheiden am 21. Januar in Bonn auf einem außerordentlichen Bundesparteitag darüber, ob die SPD nach den Sondierungsgesprächen nun Verhandlungen über eine große Koalition aufnimmt.

Etwa 25 Prozent der Delegierten kommen aus Nordrhein-Westfalen. Die Landespartei steht einer Groko sehr kritisch gegenüber. Aus Mülheim werden an dem Parteitag Ulrich Scholten und Silvia Richter teilnehmen.

Die Basis wird in den nächsten Tagen die Ergebnisse noch einmal in verschiedenen Sitzungen erörtern.