Mülheim. . Die Künstlergruppe Rimini Protokoll bringt ein Theaterstück zu Europa in die privaten Wohnzimmer. Spielorte sind Mülheim, Essen und Oberhausen.
- Die Künstlergruppe Rimini Protokoll kommt mit einem Europa-Gesellschaftsspiel in die Wohnzimmer
- Gastgeber müssen nur einen Raum zur Verfügung stellen, sie selbst werden zu Darstellern
- Jeweils 15 Teilnehmer wetteifern darum, ein möglichst großes Stück des Kuchens abzubekommen
Nach den Truck Tracks-Touren 2016 durchs Ruhrgebiet geht die Künstlergruppe Rimini Protokoll jetzt auf Hausbesuch in Mülheim und Essen. Die Idee von Europa kommt dabei als Gesellschaftsspiel auf den Wohnzimmertisch. Das Projekt stellt Helgard Haug vor, die mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel das Autoren-Regie-Team bildet.
Europa ist am Auseinanderdriften, blickt man auf den Brexit in England, den katalonischen Vorstoß und den Rechtsruck, der ein gemeinsames Europa gefährdet. Kann ein Gesellschaftsspiel dagegen etwas ausrichten?
Haug: Es kann genau so einen Zustand, und die Gründe, die dazu führen, auf den Tisch bringen. Es versammeln sich bei diesem Spiel Menschen, die am gleichen Ort wohnen, aber vielleicht eine völlig andere Erfahrungswelt haben. Aus dieser sehr konkreten Situation heraus starten wir eine Reise in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft Europas. Dabei bekommt man sehr viel mit über die Haltung und Erfahrungen der Einzelnen.
Insgesamt sitzen 15 Leute an einem Tisch
Wie viele Leute nehmen daran teil?
Insgesamt sitzen 15 Leute an einem Tisch. In einem privaten Wohnzimmer in Mülheim, Essen oder Oberhausen und zuvor schon an anderen Orten in ganz Europa. Wir haben mittlerweile auch Fassungen für die USA und Brasilien erarbeitet. Für kommendes Jahr ist eine Adaption für Australien geplant. Dabei wird die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zur politischen Grundvereinbarung, in dem sich das Land befindet, gestellt. Auf eine sehr spielerische Weise.
Sie waren auch in Moskau damit. In Russland herrscht ein anderer gesellschaftlich-politischer Hintergrund als in den EU-Ländern. Geht die Spannbreite der Meinungen da nicht ganz weit auseinander?
Absolut. Das bildet sich auf einer Website ab, die wir eingerichtet haben. Man kann dort jeden einzelnen Hausbesuch einsehen und gucken, wie sich die Leute zu unterschiedlichen Situationen und Fragen verhalten. Das ist zwar nur ein Ausschnitt, aber wir haben bei jedem Hausbesuch Spielregeln, die nach einem bestimmten Prinzip vergleichbar sind. Was man darüber hinaus sehen kann, ist, dass es ein ganz großes Bedürfnis gibt, sich zu diesen Themen auszutauschen. Es ist der Versuch, den Küchentisch, den Privatraum als einen politischen Ort zu definieren.
Der Gastgeber darf zwei Leute selbst einladen
Was hat der Gastgeber zu tun?
Als Gastgeber hat man erst mal nicht viel mehr zu tun, als den Raum wie für eine spontane Party zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich dabei um kein Catering-Event. Der Gastgeber darf zwei Leute einladen, die anderen sind Gäste, die ein Ticket gebucht haben. 15 Menschen um diesen Tisch herum spielen dann ein Spiel, das von einem Spielleiter angeleitet wird und möglichst schnell alle Verantwortung in die Hände der Spieler legt. Das, was an diesem Tisch passiert, ist das Theaterstück. Das Wohnzimmer ist die Bühne. Die Spieler die Hauptdarsteller.
Welche Regeln gibt es?
Es gibt fünf unterschiedliche Spiellevel, die mit jeweils anderen Regeln gespielt werden. Beim ersten Level geht es darum, den Gastgeber kennenzulernen beziehungsweise dessen oder deren Umfeld. In der zweiten Runde geht es um die Gruppe an sich und die Einstellungen der Einzelnen. Erst ab dem dritten Level geht es stärker darum, die anderen einzuschätzen und eine Spielstrategie zu entwickeln. Es werden Teams gebildet, die spielen um das größte Stück eines Kuchens. Es ist manchmal fatal, eine Gruppe gewinnt Dreiviertel des Kuchens und zwei andere müssen sich ein Mini-Stückchen teilen. Es ist aber leider auch ein recht realistisches Resultat – blickt man auf den Zustand unserer Gesellschaft.
Rimini Protokoll krempelt die Theaterlandschaft mit neuen Konzepten um. Mit dem Stück „Karl Marx – das Kapital“ waren Sie 2007 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen, erhielten den Dramatikerpreis und Publikumspreis.
Ja, das hat uns sehr gefreut und eine wichtige Debatte darüber ausgelöst, was überhaupt als Theater zu verstehen ist und welche Aufgaben und Funktionen Theater hat. Wir arbeiten an der Erweiterung des traditionellen Theaterbegriffs, versuchen immer neue Formen zu entwickeln, um unsere Realität zu untersuchen. Das sind Bühnenstücke, in denen wir Menschen, die keine Schauspieler sind, mit ihren Biografien und ihrem Wissen ins Zentrum stellen. Oft verlassen wir aber auch die Häuser, suchen das Theater ganz konkret in der Stadt.
Wie kam diese erneute Kooperation mit dem Ringlokschuppen?
Der Ringlokschuppen ist ein großartiger Ort, der viele innovative Projekte hervorbringt und beherbergt. Wir wollten unsere Zusammenarbeit nach Truck Tracks fortsetzen. Dafür haben wir Unterstützung der Mercator-Stiftung erhalten, die auf Hausbesuch Europa aufmerksam geworden war und das Projekt in NRW ermöglicht.
>> SELBST GESTGEBER WERDEN
Die Hausbesuche Europa in Mülheim und Essen starten am Mittwoch, 8. November. Es gibt bislang 19 Termine, wovon vier bereits ausgebucht sind. Jede Vorstellung findet in einer anderen Wohnung in Essen oder Mülheim statt, Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Die Tischgesellschaft besteht aus 15 Personen: ein Gastgeber, der zwei Gäste einlädt (freier Eintritt), ein Spielleiter sowie elf reguläre Besucher (Eintritt 16 Euro/ermäßigt 8 Euro).
Das Projekt dauert bis 16. Dezember. Wer möchte, kann selbst Gastgeber werden. Ansprechpartner: Zsolt Káldi, Tel. 0208/99 316 75, www.ringlokschuppen.ruhr
Einen Eindruck von den Hausbesuchen gibt’s im Internet unter vimeo.com/148471682.