Mülheim. . Wer im Alter in Armut lebt, kann Grundsicherung beantragen. Doch die Scham ist groß und Aufklärung wichtig. Oft braucht es Hilfe.

  • Viele Rentner schämen sich, die zum ersten Mal nicht mehr mit ihrem kleinen Einkommen auskommen
  • Ehrenamtliche und Seelsorger kennen dieses Problem. Aufklärung spielt eine wichtige Rolle
  • Oft sind verschämte, in Armut lebende Rentner auf die offenen Augen anderer und ihre Hilfe angewiesen

Der Gang zum Amt, davor schämen sich viele Rentner, die zum ersten Mal im Leben nicht mehr mit ihrem kleinen Einkommen auskommen. Ehrenamtliche und Seelsorger kennen dieses Problem. Aufklärung spielt eine wichtige Rolle. Doch jedem Bürger, der in Armut gerät, steht im deutschen Sozialstaat Hilfe zu: Zur Aufstockung der Rente können Senioren Grundsicherung im Alter (SGB XII) beantragen. Je früher jemand Hilfe in Anspruch nimmt, desto besser könne geholfen werden – und das nicht nur finanziell, sagt Sozialamts-Chef Klaus Konietzka.

Auf offene Augen angewiesen

Oft sind verschämte, in Armut lebende Rentner auf die offenen Augen anderer angewiesen. „Sie werden abgeholt, indem vielleicht der Nachbar sieht, dass sie im ärmlichen Verhältnissen leben, oder der Bäcker, die Mitarbeiter in der Apotheke oder die Lotsen im Stadtteil.“ Lotsen, das sind Ehrenamtliche, die als Ansprechpartner für Seniorenfragen vom Mülheimer Sozialamt speziell geschult wurden.

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Sie kennen sich mit allen Fragen von Geld über Mobilität bis hin zur Wohnsituation aus. Die Lotsen helfen mit Fingerspitzengefühl und vermitteln an die Mitarbeiter aus den Seniorenberatungen vor Ort weiter. Diese machen zwar noch keine konkreten Anträge auf Sozialleistungen fertig, können aber grundsätzlich beraten, ob ein Antrag auf Grundsicherung oder Wohngeld lohnen kann. Zudem können sie Hilfsangebote vermitteln: von der Pflegeberatung bis hin zu kostenlosenoder günstigen Freizeitaktivitäten im Stadtteil.

„Wenn die Menschen weniger Geld zur Verfügung haben, dann droht eine Isolierung, eine Abkoppelung vom Gemeinschaftsleben“, weiß Klaus Konietzka. Deshalb sei das Sozialamt auf gute Netzwerke angewiesen. „Wir gehen praktisch dort hin, wo die Probleme präsent sind. Denn wenn wir warten würden, bis die Menschen zu uns kommen, dann sind die Problemlagen meist schon so verfestigt, dass wir sie kaum noch abgebaut kriegen.“

Kinder werden fast nie informiert

„Manchmal gehen die Seniorenberater auch den ersten Schritt zum Amt mit, damit Hemmnisse – wenn sie da sind – abgebaut werden“, sagt Peter Todt. Der 63-Jährige leitet im Sozialamt die Abteilung für Grundsicherung. Immer montags, mittwochs und freitags von 8 bis 12.30 Uhr haben Todt und seine Mitarbeiter ihre Sprechzeiten.

Eine von ihnen ist Beraterin Angela Keller. In ihrem Zimmer im zweiten Stock des Sozialamts prüft sie genau, ob Rentnern finanziell geholfen werden kann. Dazu werden die Vermögensverhältnisse genau geprüft. Rentenbescheide, Sparbücher und Kontoauszüge schaut sie an. Zur Berechnung der Grundsicherung sind auch Unterlagen von Versicherungen und der Mietvertrag wichtig. „Vereinfacht kann man sagen: Wer nach Abzug von Rente, Versicherungen und Mietkosten weniger als 409 Euro im Monat zum Leben zur Verfügung hat, der hat sehr wahrscheinlich Anspruch auf Grundsicherung“, erklärt Peter Todt.

1790 Mülheimer über 65 erhielten Grundsicherung

1790 Mülheimer, die älter als 65 Jahre waren, erhielten im vergangenen Jahr Grundsicherung. Auch Todt ahnt, dass die Grauzone noch immer groß sein könnte. Er weiß, dass viele Rentner sich davor fürchten, dass ihre Kinder vom Amt angeschrieben werden. „Sie wollen nicht, dass die Kinder ihre wirtschaftlichen Verhältnisse offenlegen müssen.“ Diese Sorge aber kann er nehmen: „Ein Kind muss den Bedarf der Eltern nur dann sicherstellen, wenn es über 100 000 Euro Brutto-Einkommen im Jahr hat.“ Solche Fälle gebe es aber höchst selten. „Laut Gesetz prüfen wir das auch im Regelfall nicht, sondern fragen erst nach, wenn Verdachtsmomente bestehen, dass ein Kind mehr verdient.“

Andererseits, sagt Peter Todt, gehe er davon aus, dass viele Angehörige in Mülheim „wie selbstverständlich“ die Kosten ihrer Eltern übernehmen würden und keine Anträge beim Sozialamt stellen – auch, wenn vielleicht ein Anspruch auf Sozialleistungen bestünde. „Das ist eine weitere Grauzone der Altersarmut.“ Auch hier würde eine Aufklärung helfen.

<<< WER ANSPRUCH AUF GRUNDSICHERUNG HAT

409 Euro sollte jeder alleinstehende Rentner im Monat zum Leben zur Verfügung haben. Das besagt die politisch festgelegte Regelbedarfsstufe. Senioren, die nach Abzug von Miete und Heizkosten weniger Geld zur Verfügung haben, können die Grundsicherung im Alter beantragen, um eine Aufstockung zu bekommen.

Schwerbehinderte kriegen gesetzlich einen Mehrbedarf von 69,53 Euro (17 Prozent mehr) angerechnet. Ihr Regelbedarf beträgt insgesamt 478,53 Euro.

Bei Ehepaaren oder Lebenspartnerschaften beträgt die Regelbedarfsstufe derzeit 368 Euro pro Person.

Die Vermögensfreigrenze beträgt bei Alleinstehenden 5000 Euro, bei Verheirateten/Lebenspartnern 10 000 Euro.

Kinder und Angehörige müssen nichts zahlen. Erst, wenn eines der Kinder mehr als 100 000 Euro im Jahr verdient, entfällt der Anspruch auf Grundsicherung.

KOMMENTAR: Auch ein engmaschiges Netz hat noch Löcher

Wie ein enges Netz wollen sie arbeiten: die Mitarbeiter vom Sozialamt, die Seniorenberater, die Seelsorger und Ehrenamtlichen. Sie alle helfen, diejenigen aufzuklären, die aus Angst und Scham nicht den Mut haben, Grundsicherungsleistungen im Alter zu beantragen.

Doch auch das engste Netz kann nicht verhindern, dass Einzelschicksale hindurchrutschen. Dass Menschen nicht aufgefangen werden. Dass Rentner heimlich hungern und frieren, weil ihnen das Geld für die Heizkosten fehlt.

Es liegt an uns, daran etwas zu ändern: uns Nachbarn, Verwandten, Freunden und Bekannten. Wir alle können helfen, indem wir genauer hinsehen, wie es den Menschen in unserem Umfeld wirklich geht, und indem wir sie auf schweren Wegen begleiten. Den Kampf gegen die Not gewinnen wir nicht ohne Mitmenschlichkeit. Anna Ernst